Die Flötenspielerin gibt es als
Ebook und Taschenbuch.

Ein Feuer, ein Fluch, eine Intrige, ein zerstörtes Leben. Wird die Melodie der Flötenspielerin das Schicksal verändern können?

Leah ist fast noch ein Kind, als sie des bösen Blicks beschuldigt wird und gerichtet werden soll. Ihre Amme flieht mit dem Mädchen, bevor die Häscher sie erwischen können. Nach sieben Jahren der Flucht erreichen sie die Grafschaft Gehrenburg und hier nimmt man sie freundlich auf. Niemals darf jedoch Leahs wahre Herkunft bekannt werden.
Um dem Trubel des Dorfes zu entfliehen, sucht sie oft Ruhe in der Natur. Sie nimmt ihre Flöte und folgt dem schmalen Pfad den Berg hinauf. Dort spielt sie in der Stille des Waldes ihre Melodien. Doch nicht nur die Bäume lauschen gebannt den Flötenklängen.
Ein rätselhafter Mann mit samtiger Stimme und vornehmer Sprache wird ihr regelmäßiger Zuhörer. Nur im Verborgenen lauscht er ihrer Flöte und tritt niemals aus dem Schatten der Bäume. Er lebt allein in der Ruine der Bergfeste hoch oben auf dem Pass. Kann dies der Kapuzenmann sein, den im Dorf alle fürchten?
Leah schöpft einen Verdacht: Vor Jahren, nach dem großen Brand, verschwand der Sohn des Grafen.

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Taschenbuch Die Flötenspielerin

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Musik, die mich beim Schreiben inspiriert hat

Leseprobe von "Die Flötenspielerin"

Anschlag

Arras, Grafschaft ´d Artois, Frankreich
Im Jahre des Herrn 1238

„Öffnet sofort die Tür! Gebt das Mädchen heraus!“ Unerbittlich dröhnte der Schlag der Fäuste gegen die Tür. Leahs Blick flog zu ihrer Ziehmutter Helena.
„Ich habe sie schon mit ihren Fackeln die Straße hinaufkommen sehen“, brummte Helenas Mann Sebastian, der für sie wie ein Vater war. „Leah, nach oben. Versteck dich zwischen den Heubündeln!“, zischte er.
Sie nickte hastig, sah mit angstvoll aufgerissenen Augen noch einmal zur Tür und huschte dann leise die Stiege hinauf.
Aus dem Augenwinkel sah sie noch, dass Gerbo, Sebastians Neffe, sich in dem Augenblick durch die Seitentür nach draußen schlich. Oben angekommen hockte sie vor der Giebelluke und schaute auf das Geschehen vor dem Haus hinunter. Gerbo hatte sich irgendwie vor die Haustür gedrängt, und versuchte jetzt mit aller Kraft, den Männern den Weg zu versperren.
Der Anführer fegte den Burschen mit einem kräftigen Faustschlag zur Seite. Leah zuckte zusammen und schloss kurz die Augen, doch dann riss sie sie gleich wieder auf. Gerbo stürzte taumelnd auf ein Knie. Sofort traf ihn der Tritt eines anderen Mannes im Rücken und er sackte mit einem Ächzen zu Boden. Der Stiefel eines anderen Mannes traf ihn im Nacken. Er blieb regungslos liegen.
„Das Mädchen ist nicht hier, sie ist heute Nacht im herzoglichen Palais geblieben“, rief Helena mit bebender Stimme unten in der Diele.
Leah presste sich auf den Boden und spähte durch ein Astloch. Sie bebte vor Angst, doch sie musste sehen, was dort unten passierte.
Holz splitterte, die schwere Haustür löste sich aus den Angeln und fiel in den Raum. Sebastian wurde durch die Wucht nach hinten gestoßen und keuchte auf, als die Tür ihn unter sich begrub. Mehrere kräftige Kerle drängten zugleich durch den zerborstenen Türrahmen.
„Wo ist sie?“, verlangte einer der Männer, mit geballten Fäusten zu wissen. Leah erkannte Gerard, den Stellmacher von nebenan. Er hatte seine beiden Gesellen und noch drei weitere Nachbarn mitgebracht.
Leah starrte die Männer an, die nun begannen alles zu durchwühlen.
„Was wollt Ihr, sie ist doch noch ein Kind“, schluchzte Helena.
„Sag mir endlich, wo sie ist!“, brüllte Gerard.
„Sie ist nicht hier, sie ist im Palais“, wiederholte Helena atemlos. Noch nie hatte Leah die Stimme ihrer Ziehmutter so verzweifelt und ängstlich gehört. Sie schlug die Hand vor den Mund, um nicht ebenfalls zu schluchzen. Die Kerle durften sie nicht hören. Langsam schob sie sich nach hinten, darauf bedacht, nur kein Geräusch zu machen.
„Wenn du nicht die Wahrheit sagst, wirst du wünschen, du hättest die Kleine nie gesehen“, stieß Gerard zischend hervor.
Helena schrie auf und Leah war sicher, dass Gerard ihre Ziehmutter geohrfeigt hatte. Sie war inzwischen hinter die Heubündel gekrochen und rollte sich so klein zusammen, wie sie nur konnte. Die Männer durften nicht nach oben kommen. Das war alles, woran sie denken konnte. Sie lag zitternd, ganz tief unter dem Heu, in der hintersten Ecke des Dachbodens. Tränen liefen ihr über das Gesicht, aber sie presste noch immer die Hand auf den Mund und schaffte es, nicht laut zu schluchzen.
„Wir werden das kleine Luder schon kriegen und dann wird sie gerichtet, wie die alte Hagrid“, hörte sie Gerald unten brüllen. Ein höhnisches Lachen hallte durch das kleine Haus. Leah erstarrte und für einen Moment versiegten sogar die Tränen, als die Erinnerung sie überfiel.
In der letzten Woche hatte sie bei der Hinrichtung der Alten zusehen müssen. Agnes, ihre Stiefmutter, hatte darauf bestanden. Sie hatte ihr auch erklärt, warum Hagrid sterben musste. Viele Fische waren nach dem letzten Sturm mit den Bäuchen nach oben angeschwemmt worden. Die Stadt lebte vom Fischfang ebenso wie vom Handel, und die Netze der Fischer blieben seither fast leer. Die alte Einsiedlerin, die unweit der Stadt am Fluss gelebt hatte, war deshalb angeklagt worden, mit dunklen Mächten im Bunde zu sein. Sie wurde beschuldigt, sowohl für den Sturm, als auch den Tod der Fische verantwortlich zu sein.
Wie eine gebrechliche alte Frau solche Macht haben sollte, war Leah völlig unverständlich. Die Fischer und die übrigen Dorfbewohner schienen jedoch ganz sicher zu sein, dass sie schuldig war. Ihre Stiefmutter, die neue Frau des Grafen, hatte Leah ganz nach vorn geschoben, denn sie sollte genau sehen, was mit solchen geschah, die sich mit Mächten der Finsternis verbündeten. Das sollte eine heilsame Wirkung auf ihren bösen Blick haben und sie davon abhalten, genauso zu enden. Das hatte zumindest Agnes so erklärt.
Nun wachte Leah jede Nacht schweißgebadet von ihren eigenen Schreien auf und konnte nicht wieder einschlafen. Immer wieder hörte sie die Schreie der alten Frau und die hasserfüllten Rufe der Menschen, die sie steinigten. Inzwischen wollte sie überhaupt nicht mehr schlafen und versuchte jeden Abend, so lange wie möglich wach zu bleiben. Helena hatte mit Sebastian darüber gesprochen, dass ihre nächtlichen Schreie sich in der ganzen Nachbarschaft herumgesprochen hatten. Inzwischen wären die Leute davon überzeugt, dass sie auch mit der Dunkelheit im Bunde wäre. Leah wusste, warum die Leute so dachten. Es war der Makel, der ihr seid der Geburt anhaftete, und sie war sicher, dass sie dieses Unheil für alle Ewigkeit verfolgen würde.

„Kommt jetzt, wir gehen in die Taverne zurück. Morgen früh wird sie schon wieder auftauchen und dann schnappen wir uns das kleine Luder“, hörte Leah dem Stellmacher sagen. Langsam schob sie sich zu dem Astloch vor, um wieder nach unten zu sehen.
Helena lag am Boden und raffte sich mit tränenverschmiertem Gesicht auf. Dann half sie Sebastian, die Tür von seinem Körper zu schieben. Schwer atmend hielt er sich den Brustkorb und stöhnte. Langsam richtete er sich zum Sitzen auf.
Helena tastete seinen Brustkorb ab. „Lass mich deine Rippen anschauen, da ist sicher etwas gebrochen.“
Sebastian schüttelte den Kopf. „Sieh nach Gerbo, ich komm schon zurecht“, keuchte er.
Leah riss die Augen auf. Gerbo! Der war doch immer noch draußen! Sie fuhr zur Giebelluke herum.
Vor einem Jahr erst hatte der Junge die Ausbildung bei Sebastian begonnen und inzwischen war er ihnen allen ans Herz gewachsen. Gerbo war vor allem für Leah ein guter Freund geworden. Er stand immer zu ihr, auch dann, wenn niemand sonst auf ihrer Seite war. Mit seinen vierzehn Jahren war er nur zwei Jahre älter als sie und Helena hatte schon gescherzt, dass es für die erste Liebe vielleicht noch ein wenig früh wäre.
Schluchzend kniete Helena neben dem zerschlagenen Körper ihres Freundes und Leah sprang auf. Sie hastete die Leiter hinunter, schrammte sich an einem Steg das Schienbein auf und rannte dann, ohne anzuhalten, zur Tür. Mit einem Aufschrei stürzte sie hinaus und warf sich neben ihrem reglosen Freund auf die Knie. Ihre zitternden Finger berührten sacht sein zerschundenes Gesicht und strichen über seine blutverklebten Haare.
Er war tot.
Sie hatten ihn tatsächlich totgeschlagen.
Plötzlich zerrte Helena an ihrem Arm und zog sie hastig zum Haus zurück.
„Kind, du darfst nicht hier draußen sein. Wenn sie dich sehen, gibt es kein Entkommen mehr.“
Leah schluchzte hemmungslos und ließ sich wie betäubt wieder hineinführen. Orientierungslos stand sie neben der Kochstelle. Ihr Blick fiel auf das zerschlagene Geschirr und die umgestoßenen Stühle. „Alles nur wegen mir“, flüsterte sie und schüttelte den Kopf.
„Wir müssen sofort von hier weg“, brummte Sebastian.
Leah sah auf und bemerkte den vielsagenden Blick, den er mit Helena tauschte. Noch immer war sie wie benebelt und in ihrer Mitte breitete sich immer weiter ein heißer Schmerz aus.
Gerbo, ihr bester – ihr einziger Freund. Tot.
Helena und Sebastian liefen im Haus herum. Leah folgte ihnen mit den Augen, verstand aber nicht, was geschah. Sie war immer noch wie benebelt und als Helena ihr einen Beutel in die Hand drückte, hängte sie ihn, ohne nachzudenken, über ihre Schultern. Schließlich band Sebastian noch einen weiteren Reisebeutel auf ihren Rücken und schob sie vor sich her in den Stall. Leah ließ sich widerstandslos auf ein Pferd setzen. Dann ritten sie alle drei in die Nacht hinaus.

Töne

Wald bei der Bergfeste Hohburge
Im Jahre des Herrn 1245

Langsam ging er den steilen Weg vom Dorf zur Bergfeste hinauf. Der Frühling hatte Wald und Felder in frisches Grün getaucht und die Vögel sangen fast unangemessen laut im letzten Abendlicht. Jetzt endlich wurden die Tage länger und wärmer und der lange, eisige Winter war gebrochen. Ein Reh stand in einiger Entfernung mitten auf dem Pfad und schaute mit zuckender Nase und eifrig spielenden Ohren in seine Richtung. Alexander zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht und weder das Reh noch die Schönheit der letzten Sonnenstrahlen durchbrachen seine düsteren Gedanken.
Seine Schritte waren schwer, genauso wie sein Herz. Er war heute, zum ersten Mal nach dem Winter wieder im Dorf gewesen, um sich mit den Dingen zu versorgen, die der Wald ihm nicht geben konnte. Er schob diesen Gang immer so lange wie möglich hinaus, weil er die Angst und die Ablehnung, die ihm im Dorf entgegenschlugen, kaum ertragen konnte. Vergeblich hoffte er immer wieder, dass ihm jemand freundlich begegnen würde, ihm einen Gruß, ein kurzes Gespräch ein wenig Gesellschaft schenken würde. Doch obwohl er sich in seinem weiten Umhang und der großen Kapuze verbarg und niemals aufblickte, blieb niemand auf der Straße, sobald er auftauchte. Sie verschwanden immer hinter hastig zugeschlagenen Türen und es herrschte gespannte Stille zwischen den Häusern. Es war nicht weit vom Dorfrand bis zum Krämer, der seinen Laden direkt am Hauptweg hatte. Doch auch der alte Mann zeigte sich nicht. Er schob die Waren wortlos durch einen schmalen Türspalt heraus und ließ das Geld liegen, bis Alexander wieder verschwunden war.
Plötzlich vernahm er Töne, die durch die Abenddämmerung perlten. Er blieb stehen und hob den Kopf. So etwas hatte er noch nie gehört. Ein wenig klangen sie wie Vogelgezwitscher, dann wieder wie eine Stimme. Traurige und sehnsuchtsvolle Töne, die einem drückenden Gefühl von Einsamkeit ihre Stimme zu geben schienen. Solch ein Lied konnte kein Vogel hervorbringen.
Wie gebannt stand er mitten auf dem Weg, um der seltsamen Melodie zu lauschen. Diese Klänge, woher kamen sie? Er löste sich aus der Erstarrung und stürzte den Weg entlang. Immer wieder lauschend folgte er dem Klang und achtete nicht auf die Dunkelheit, die sich langsam herabsenkte. Er musste den Ursprung der bittersüßen Melodie finden, bevor die Finsternis der Nacht alles verschluckte. Ein letzter langer Ton, dann zog tiefe Stille durch den Wald.
Mitten in der Bewegung erstarrte Alexander und versuchte, seinen keuchenden Atem anzuhalten. Konnte er noch irgendeine kleine Regung aus der Richtung erhaschen, aus der die Melodie erklungen war?
Nichts.
Seine angespannten Schultern sackten herunter und er ließ sich neben dem Weg auf einen umgestürzten Baumstamm fallen. Die Dämmerung kleidete den Wald in Grau und der Weg verschwamm in einem kalten Nebel, der vom Boden aufstieg.
Da, kurz vor ihm, eine Bewegung! Jemand war vom Mauervorsprung unter dem alten Steinbogen gesprungen. Leise knackte ein Ast, als sich die Person dem Weg zuwandte.
Sie kam in seine Richtung.
Schnell sprang Alexander auf und eilte mit seinen ungleichen Schritten zu einer dicken Buche. Er verbarg sich hinter ihrem glatten Stamm und spähte zum Weg zurück. Die schmale Gestalt ging schnell an ihm vorbei zum Dorf, ohne ihn zu bemerken. Der Umhang wehte leicht mit einer anmutigen Bewegung und ein heller, fest geflochtener Zopf wippte bei jedem Schritt hin und her.
Dann war es wieder still. So still und einsam wie zuvor.
Wie benommen blieb Alexander an die raue Rinde gelehnt stehen. Sie war so nah an ihm vorbei gegangen, so nah, dass er sie fast hätte berühren können, hätte er es gewagt, seinen Arm auszustrecken. Er schloss die Augen und konnte den Luftzug ihres Umhangs noch einmal erahnen. Ein Beben zog von seiner Brust durch den ganzen Körper und einen Augenblick glaubte er, nicht mehr atmen zu können. Seine Gedanken rasten der verschwundenen Gestalt nach.
Konnte sie diese wunderbare Melodie auf einem Instrument gespielt haben? Er hatte nicht erkennen können, ob sie etwas bei sich trug. In seiner Jugend hatte er in Büchern von allerlei verschiedenen Instrumenten gelesen. Aber noch nie hatte er etwas anderes als Laute und Sackpfeife gehört. Der Drang, der Unbekannten nachzulaufen und sie zu bitten, noch einmal zu spielen, ließ ihn zwei Schritte auf den Weg machen. Was wäre wohl geschehen, wenn er sie angesprochen hätte?
Nein! Niemals durfte sie ihn sehen, nur dann würde sie vielleicht wieder herkommen und spielen. Aus sicherer Entfernung könnte er zuhören, aber niemals durfte er sich ihr zeigen.
Erst als es vollständig dunkel war, stieg Alexander langsam zu der verlassenen Bergfeste hinauf, die er sein Zuhause nannte. Der Weg durch den immer dichter werdenden Nebel erschien ihm länger und steiler, als an anderen Tagen. Als er die Mauern der Burg erreichte, sah er zu ihren kalten Zinnen hoch. Die Nässe zog durch den wollenen Umhang in seine Schultern und sein Körper schmerzte in der Kälte stärker als sonst. Er trat durch das offene Tor in den Innenhof der Ruine. Wie schwarze Finger ragten die verkohlten Balken und Mauerreste in den Nachthimmel. Das kleine Nebengebäude, in dem er sich eine Wohnstatt eingerichtet hatte, lag in tiefen Schatten. Alexander trat ein und bemerkte sofort, dass es auch hier drinnen kalt war. Das Feuer musste inzwischen ausgegangen sein. Er stellte die Tasche mit den Waren aus dem Dorf achtlos auf eine Holzbank und zündete das Feuer in der Kochstelle wieder an. Dann zog er den niedrigen Schemel heran, hockte sich ganz dicht vor die Flammen und versuchte, sich zu wärmen.
Welches Instrument konnte wohl solch wundersame Klänge erschaffen? Alexander stand wieder auf und suchte in seinen wenigen Büchern etwas über Musik, aber hier gab es nicht die Bibliothek seiner Kindheit. Nur wenige Bände über die Ahnenkunde und über das Schmieden von Waffen und Werkzeug hatte er in diesen verfallenen Mauern gefunden.
Er setzte sich wieder ans Feuer und ließ den Kopf auf seine Hände sinken. Er wagte es nicht, sich zum Schlafen hinzulegen, denn es würde ihn nur wieder der gleiche Traum heimsuchen, der ihn seit all der Zeit jede Nacht verfolgte. Unbedacht fuhr er mit der Hand über sein Gesicht, doch als er die wulstigen Narben spürte, zog er die Finger schnell wieder weg. Er war gezeichnet, nicht nur äußerlich und würde die Geschehnisse von damals nie vergessen können.
So starrte er noch lange in die Glut, bis ihr Licht erlosch und die Dunkelheit ihn umfing.

* * *

Leah eilte den schmalen Weg zum Dorf hinunter. Die Flöte hatte sie hastig in die Innentasche ihres Umhangs geschoben, als sie bemerkte, dass es schon beinahe dunkel war. Ein dichter Nebel stieg aus dem Boden hoch und die Kälte der Nacht kroch bereits in ihren Umhang. Ihre Schritte wurden immer hastiger, denn viel schneller, als sie erwartet hatte, senkte sich die Dunkelheit herab.
Auf einem ihrer Abendspaziergänge hatte sie diesen großen Steinbogen gefunden, der wohl der Überrest einer alten Brücke war. Hier klang ihre Flöte besonders schön und voll, daher hatte sie sich vorgenommen, hier öfter zu spielen. Die Dunkelheit senkte sich zwischen die Bäume. Es war dumm gewesen, spät am Abend so tief in den ihr unbekannten Wald zu wandern. Wahrscheinlich gab es Bären, Wölfe und andere Raubtiere an dieser Bergflanke, die ein gutes Stück vom Dorf entfernt lag.
Plötzlich fühlte Leah sich beobachtet und beschleunigte ihre Schritte. Entschlossen richtete sie die Augen auf den Weg und schloss ihre Hände zu Fäusten. Eilig, aber ohne zu rennen, ging sie weiter und bald war die Gänsehaut in ihrem Nacken wieder verschwunden.
Sie konnte die Mauer, die das Dorf begrenzte schon aus einiger Entfernung sehen, und war erleichtert, als sie endlich durch das hohe Holztor schlüpfen konnte. Vor ihr lag der Stallmeisterhof, der erste direkt innerhalb der Dorfmauer. Dort angekommen, wandte sie sich direkt zum Stall. Hier hatte sie heute Abend noch Pflichten zu erfüllen, bevor sie sich schlafenlegen konnte. Wenn die Stallburschen schon gegangen waren, würde sie wieder mal selbst die letzten Dinge aufräumen müssen. Natürlich war sie selbst schuld, wenn sie so spät zurückkam, hörte sie im Geiste ihren Ziehvater sagen.
Im Flötenspiel hatte sie sich ganz der Sehnsucht hingegeben, nach ihrer alten Heimat, ihrem guten Freund Gero, den sie für immer verloren hatte und ihrem Bruder, dem sie als Einzigem aus der Familie etwas bedeutet hatte. Es war nun schon sieben Jahre her, dass sie mit Helena und Sebastian aus Arras geflohen war. Seitdem waren sie vor Ort zu Ort gezogen, ohne eine wirkliche Heimat zu finden. Auch ihre geliebte Amme hatte sie inzwischen verloren. Helena, die ihr bei der Flucht das Leben gerettet und sie so viel über die Kräuterkunde gelehrt hatte. Alle bis auf Sebastian hatte sie verloren.
Nur wenn sie auf ihrer Flöte spielte, konnte sie wieder dort sein. Dann fühlte sie sich verbunden mit denen, die sie damals hatte zurücklassen müssen, um ihr eigenes Leben zu retten.
Erst vor wenigen Wochen waren sie und Sebastian hierher nach Gehrenburg gekommen und er hatte eine Anstellung als Stallmeister des Grafen von Gehren bekommen. Für Leah war Sebastian der Fels in der Brandung. Er war immer an ihrer Seite, wenn das Leben sich gegen sie wandte, wie es ihr Vater hätte sein sollen, den sie kaum kannte. Auch Sebastian hatte in den Jahren der Flucht alles verloren. Seine Frau Helena war im letzten Jahr, als sie in Maastricht gelebt hatten, an einem Fieber gestorben. Es war eine schlimme Epidemie gewesen, die viele in der Handelsstadt dahin gerafft hatte. Helena war ursprünglich Leahs Amme gewesen und in ihrem Haus hatte Leah auch gewohnt. Ihre Mutter hatte Leah nie kennengelernt, sie war bei der schweren Zwillingsgeburt gestorben. Leahs eigentlicher Vater, der Graf von Artois, hatte sich nie wirklich um sie gekümmert. Nur mit ihrem Zwillingsbruder Philipp hatte sie eine gewisse Zuneigung verbunden.
Maastricht, der Ort, an dem sie nach ihrer ersten Flucht gelebt hatten, lag viele Tagesreisen westlich von hier in der Nähe des Meeres. Um unterwegs ihren Lebensunterhalt zu verdienen, hatten sie immer wieder mehrere Tage oder Wochen an einem Ort verbracht. So hatten sie auch die Gelegenheit gehabt, die Sprache zu lernen und sich den fremden Sitten in dem neuen Land anzupassen.
Dann hatten sie wieder alles packen müssen und waren überstürzt aufgebrochen. Ein Händler hatte Sebastian und Leah wiedererkannt. Der Mann hatte bereits in Arras am Hof von Leahs Vater mit dem Stallmeister und den anderen Bediensteten des Grafen Handel getrieben. Auf keinen Fall durften die Leute in Arras erfahren, wohin sie geflohen waren.
Da Sebastian kein Leibeigener war, konnte er seinen Wohnort frei wählen, aber als Freier ohne eigenes Land hatte er auch nicht viele Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu verdienen. Ein Handwerk hatte er nicht gelernt. Seine Kenntnisse lagen in der Aufzucht und Ausbildung von Kutsch- und Reitpferden. Es schien ein ungewöhnlicher Glücksfall zu sein, dass er hier in Gehrenburg sofort die Position eines Stallmeisters angeboten bekommen hatte. Voller Hoffnung, nun endlich angekommen zu sein, hatten sie sich auf ein neues Leben an diesem Ort eingerichtet.
Natürlich waren alle Stallburschen bereits verschwunden, als Leah nun auf dem Hof ankam. So machte sie sich also daran, die restlichen Handgriffe selbst zu erledigen. Der Stall war warm und das Schnauben und Kauen der Pferde und das gleichmäßige Streichen ihres Besens über den Stallboden hatte eine beruhigende Wirkung. Sie war gern abends allein im Stall. Nirgendwo auf der Welt war es so friedlich wie zwischen den ruhig kauenden Pferden.

Worte

Der Morgen schien heute heller zu sein, als an den Tagen zuvor. Sonne flirrte durch die Blätter der großen Linde, die in der Mitte des Burghofes stand und es wehte eine frühlingshafte Brise. Alexander ließ seinen Blick über die Mauern schweifen und atmete die kühle Morgenluft tief ein. Dann holte er frisches Wasser aus dem Brunnen und das Quietschen der Winde klang durch den Hof. Er wusch sich, und die Eiseskälte jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Dann nahm er erfrischt und voller Tatendrang das Frühstück mit zu der Bank, die direkt neben seiner Haustür stand. Nachdem er in der Morgensonne gegessen hatte, machte er sich daran, das Reh zu zerlegen, das er am Vortag gejagt hatte. Einen Teil des Fleisches würde er mit dem gestern gekauften Salz pökeln und später in den Rauch hängen.
Während er draußen im Hof arbeitete, wurde es langsam wärmer und schon bald perlten Schweißtropfen auf seiner Stirn. Seine rechte, mit Narben überzogene Hand schmerzte bereits von der Anstrengung. Er legte das Messer kurz zur Seite, um die steifen Finger zu massieren, aber dann nahm er die Arbeit wieder auf. Wie immer erledigte er seine Aufgaben mit Ruhe und Sorgfalt. Wozu sollte er sich beeilen, die Tage waren ohnehin stets viel zu lang. Jetzt im Frühjahr gab es zumindest wieder etwas zu tun.
Der Winter, wenn tiefer Schnee die Burg einhüllte und die Dunkelheit dem Tageslicht kaum weichen wollte, war beinahe unerträglich. Jedes Mal, wenn das Feuer ausging, während Alexander schlief, wurde es sofort so kalt, dass die Atemluft Eiszapfen an seiner alten Wolldecke entstehen ließ. Sein steifer, schmerzender Körper gehorchte ihm dann kaum noch und die lange Dunkelheit stahl ihm jeden Lebenswillen. Dann fragte er sich manchmal, ob er nicht einfach liegenbleiben sollte. Die Kälte würde ihn für immer einschlafen lassen, und ihn von all den Schmerzen und der Schuld endlich befreien.
Bisher war Alexander trotz allem jedes Mal wieder aufgestanden, hatte das Feuer neu entzündet und aus Schnee, Trockenfleisch und Wurzelgemüse einen Eintopf gekocht, der ihn etwas wärmte. Jetzt konnte er spüren, wie die Sonne täglich an Kraft gewann und die Tage heller und wärmer wurden.
Nachdem das frische Rehfleisch verarbeitet war, setzte er sich auf die Steinbank neben der Tür. Schon den ganzen Morgen summte er bei der Arbeit Melodiefetzen, aber er konnte sie nicht zu einem Lied zusammensetzen. Würde er heute Abend die wundervolle Musik wieder hören? Würde die junge Frau überhaupt wieder kommen? Wer war sie und warum hatte er sie zuvor noch nie spielen gehört? Wie sollte er sich den restlichen Tag auf seine Arbeiten konzentrieren, während er eigentlich nur auf die Abenddämmerung wartete?
Nach seinen mittäglichen Übungen mit der Lanze wusch er Schweiß und Staub am eiskalten Wasserfall ab. Noch immer kreisten seine Gedanken um die alte Steinbrücke und die Musik. Wenn er ehrlich war, ging es nicht nur um die Musik, sondern ebenso um die junge Frau, die sie spielte. Ihre Erscheinung in der Abenddämmerung hatte eine derart heftige Sehnsucht in ihm ausgelöst, dass sein Herz schmerzte. Einem anderen Menschen nahe zu sein, und wenn es mit vielen Ellen Abstand war, das war ein Wunschtraum, den er für unerfüllbar gehalten hatte. Er könnte einfach schon hingehen und sich den Platz anschauen, wo sie gesessen hatte. Ja, das war ein guter Plan und er würde vorsichtig sein, dass sie ihn nicht bemerkte, wenn sie käme.
Erleichtert über diesen Entschluss stand Alexander auf, nahm seinen weiten, dunklen Umhang und machte sich auf zur alten Brücke. Zuerst ging er auf dem Weg von der Bergfeste über die flache Hügelkuppe und ein Stück auf der anderen Seite herunter bis zur Lichtung. Hier war die Bergflanke so steil, dass sich vorletzten Winter eine kleine Lawine gelöst hatte. Im Herunterrasen hatte der Schnee viele Bäume entwurzelt oder abgeknickt. So konnte Alexander von hier aus fast das ganze Tal überblicken.
Das frische Grün ließ die Ebene wie einen Edelstein leuchten. Mitten in dieser Ebene lag die mächtige Gehrenburg. Das Dorf schmiegte sich wie eine Vorburg daran und umschloss die gesamte Anhöhe, auf der die Mauern der Burg errichtet worden waren. Wie er nur zu gut wusste, überblickte man von den Räumen des Burgfrieds das gesamte Dorf und die Ländereien bis zum Fluss. Ein Bach entsprang etwas oberhalb der Ruine der Bergfeste, die jetzt sein Unterschlupf war. Gleich unterhalb der Außenmauern stürzte der Bach in einem kleinen Wasserfall die Felsen hinunter. Von dort zog er sich windend hinunter bis in die Ebene, zum Gut von Bruch und bis nach Eissenburg, um dort in den Fluss zu münden.
Einst war die Gehrenburg sein Zuhause gewesen, doch diese Zeit schien so unendlich fern wie die Sterne am Nachthimmel. Niemals konnte er darauf hoffen, diese Tore wieder zu durchschreiten.
Er wandte sich ab und verließ den Weg, der früher einmal über eine Brücke zum Dorf geführt hatte. Noch ein kurzes Stück ging er steil den Berg hinunter, dann unter den mächtigen Kronen der Buchen hindurch. Auf diesem Weg kam er von oben zum Bach, der sich unter der ehemaligen Brücke hindurch wand.
Das Sonnenlicht warf goldene Flecken durch das Laub, auf den schulterhohen Vorsprung, der das Fundament der Brücke gebildet hatte. Hier musste sie gestern gesessen haben. Das Zwitschern der Waldvögel klang hier unter dem Steinbogen anders und auch das Plätschern des Baches hatte einen besonderen Klang. Deshalb hatte sie also diesen Platz gewählt.
Alexander trat näher an das Fundament heran, und strich mit der flachen Hand über den rauen, sonnenwarmen Stein. Er hielt unwillkürlich den Atem an. Unerwartet scharf stach es in seiner Brust bei dem Gedanken, dass die Flötenspielerin vielleicht nicht wiederkommen würde. Er presste die Faust gegen seine Rippen und schloss die Augen. Beinahe glaubte er die wunderbare Melodie, die doch so traurig geklungen hatte, wieder zu hören.

* * *

Sebastian hatte Leah darum gebeten, aus verschiedenen, ausrangierten Lederteilen ein Geschirr herzustellen, mit dem man das junge Pferd ausbilden konnte. Sie hatte sich daher in der staubigen und dunklen Geschirrkammer verschiedene Stücke zusammengesucht, um daraus etwas Brauchbares zu nähen. Ihren Hocker und einen kleinen Tisch für das Werkzeug hatte sie vor dem Stall in den Innenhof gebracht. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer und legte den Kopf zurück, um die Frühlingssonne in ihr Gesicht scheinen zu lassen. Nach wenigen Augenblicken beugte sie sich wieder vor und nahm das Leder in Augenschein. Mit ihrem kleinen scharfen Messer trennte sie zunächst einige alte Nähte auf, dann nahm sie die Ahle und den kräftigen Faden aus Flachs zur Hand, um es an anderer Stelle zusammen zu nähen.
Bisher hatten die Leute hier einfach ein paar Seile zusammen geknotet, um die Jungtiere anzulernen. Nach Sebastians Ansicht war es aber besser, gleich am Anfang ein richtiges Geschirr zu verwenden. Die dünnen Seile schnitten zu sehr ins Fell und behinderten die Bewegung. Viele der Jungpferde wurden daher oft schon am Anfang ihrer Ausbildung widersetzlich.
Die schmutzige Geschirrkammer wollte sie sich auch noch vornehmen. Zusammen mit Georg, dem Gehilfen ihres Vaters, musste sie dort dringend Licht und Luft hereinlassen und alle Lederteile ordnen und mit Fett einreiben. Sie seufzte. So vieles wollte sie hier verändern, aber Sebastian hatte ihren Überschwang gebremst.
Man konnte nicht einfach als Fremder an einen Ort kommen und alle möglichen Dinge ändern wollen, hatte er ihr erklärt. Fremden misstraute man, und fremde Ideen wurden ebenfalls erst einmal abgelehnt. Die Wege der Leute waren eingefahren. Wenn man sie nicht gleich gegen sich aufbringen wollte, musste man behutsam vorgehen.
Leah schob die Gedanken an Misstrauen und Ablehnung beiseite und konzentrierte sich auf die Näharbeiten. Die Ahle durch das alte Leder zu zwingen, war anstrengend und zeitraubend. Als sie endlich mit dem Ergebnis ihrer Arbeit zufrieden war, stand die Sonne bereits hoch und die Mittagszeit war längst vorüber.
Sie stand von ihrer gebückten Haltung auf dem Hocker auf und streckte sich ausgiebig in der warmen Frühlingssonne. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr Magen rumorte, da ihm die ausgefallene Mittagsmahlzeit fehlte. Leah ging zur Küche des Hofes und holte sich den Rest der Suppe und des Brots. Dann ging sie wieder nach draußen, um beim Essen auf ihrem Platz vor dem Stall in der Sonne zu sitzen.
Der Innenhof wurde von den Wohngebäuden, den Stallungen und der großen Vorratsscheune gebildet. Kurz dahinter umschloss die Außenmauer das Dorf, und der Weg, vor dem Hof führte direkt vom Brunnenplatz durch das Wiesentor auf die flache Seite des Tals. Dort lagen die weiten Wiesen und Felder, die zum Dorf und der Burg gehörten.
Leah genoss die Stille im Hof, während alle draußen auf den Feldern waren. Solche Tage, an denen sie ihre eigenen Aufgaben hatte und nicht fortwährend mit so vielen lauten Menschen zusammen sein musste, waren ihr die liebsten. Wenn mehrere Leute zugleich redeten, konnte sie ohnehin kaum folgen. Die Aussprache war ihr fremd und viele Worte verstand sie nicht, wenn schnell gesprochen wurde. Zwar wurde das mit jedem Tag besser, aber bis sie sich wie früher mit jedem problemlos unterhalten könnte, würde noch viel Zeit vergehen.
In Maastricht war das von Anfang an ganz anders gewesen, erinnerte sich Leah wehmütig. In der Stadt begegnete man vielen Händlern aus anderen Ländern. Mit ihrem Französisch war Leah recht gut zurechtgekommen und hatte das Niederländische nach und nach dazulernen können. Wer etwas nicht verstand, versuchte eben, sich mit Händen und Füßen zu verständigen. Dergleichen gehörte in der Handelsstadt zum ganz normalen Bild. Hier in Gehrenburg nahmen die Leute nur selten Rücksicht, langsamer mit ihr zu sprechen. Manch einer glaubte wahrscheinlich, sie wäre dumm, da man ihr alles extra deutlich erklären musste, und sie auch selbst oft nicht die richtigen Worte fand. Hier war man es einfach nicht gewohnt, sich mit Fremden abzugeben.
Leah seufzte, stand auf und brachte ihr Geschirr in die Küche zurück. Jetzt musste sie noch das Futter für die Arbeitspferde richten, damit sie direkt fressen konnten, wenn alle von der Feldarbeit zurückkehrten. Wenn sie sich sehr beeilte, hätte sie noch Zeit, zum Bogen zu laufen und an ihrem neuen Lieblingsplatz Flöte zu spielen, bevor die Abenddämmerung kam.
Kaum war sie mit ihrer Näharbeit fertig, stand ein ihr unbekannter Bursche vor ihr und starrte Löcher in den Boden. Der Junge reichte ihr kaum bis zur Hüfte. Er konnte noch kein Knappe sein, denn er erschien ihr jünger als acht Jahre. Er baute sich vor ihr auf, beide Hände in die Hüften gestützt und sah sie auffordernd an.
„Seid Ihr die Pferdeheilerin?“, fragte er.
Leah stutzte, diese Bezeichnung war für sie noch ungewohnt. „Ähm, ja, das bin ich wohl. Was gibt es denn?“
Nun verließ den Kleinen der vorher zur Schau gestellte Mut und verlegen trat er von einem Bein auf das andere. „Ein Pferd wurde verletzt und mein Ritter hat gehört, dass es hier eine Frau gibt, die sich mit solchen Dingen auskennt.“
Leah nickte und wartete, ob er noch mehr zu sagen hätte. Der Junge drehte sich aber einfach um und lief aus dem Stall. Offensichtlich war es ihm nicht ganz geheuer, mit ihr zu sprechen, und nachdem er seine Nachricht überbracht hatte, trat er sogleich die Flucht an.
Eilig lief sie hinter ihm her. „He, warte, sollst du mich nicht zu dem Pferd bringen?“
Ihr Rufen nützte nichts. Der Bursche war bereits verschwunden. Also ging Leah zurück, nahm ihre Tasche mit den grundlegenden Dingen, die man bei Verletzungen benötigte, und machte sich auf den Weg. Sie ging quer durch das Dorf zu dem Stall, der nahe des Marktplatzes direkt vor der Burgmauer lag. Der Stall der Ritterpferde war vorbildlich sauber und aufgeräumt. Zu beiden Seiten der Mittelgasse standen die Pferde, an schweren Balken angebunden und fraßen das vorgelegte Heu. Kaum im Inneren des niedrigen Gebäudes angekommen, fand sie auch den Jungen wieder. Hier schien er in seinem Element zu sein und wurde wieder zugänglicher. Tatkräftig führte er sie zu dem verletzten Pferd, und zeigte ihr die Wunde. Das elegante Tier stand völlig unbeeindruckt da und kaute sein Heu, während der Junge ohne Angst zwischen seinen Beinen hindurch schlüpfte. Sie sah sich das blutende Bein an und stellte fest, dass es sich nur um einen oberflächlichen Riss handelte. Sie reinigte die Wunde und trug eine Salbe auf, die vor Entzündungen schützte. Dann gab sie dem Knappen Salbe und Wickel und die Anweisung, wie sie anzulegen und zu wechseln wären. Anschließend lief sie zurück zum Hof der Arbeitspferde, schlüpfte in ihre Kammer und steckte schnell ihre Flöte ein.
Sie war mehr, als ein Musikinstrument für Leah. Die Flöte war ihr einziger Besitz, der von ihrer leiblichen Mutter stammte.
„Wenn ich eine Tochter bekommen sollte, soll sie das Flötenspiel erlernen und meine Flöte bekommen“, hatte sie noch kurz vor der Geburt gesagt, hatte ihre Amme Helena ihr erzählt. Also hatte Helena dafür gesorgt, dass sich dieser letzte Wunsch erfüllte. Sie hatte die Flöte an sich genommen und sie für Leah aufbewahrt, bis sie alt genug war, das Spielen zu lernen. Es hatte sich allerdings kein Flötenspieler gefunden, der sie den Umgang mit dem Instrument hätte lehren können. So hatte Leah ohne Anleitung herumprobiert, was allen im Hause gehörig auf die Nerven gefallen war. Schon bald hatte sie sich angewöhnt, sich zum Üben in den Stall oder in die Abgeschiedenheit des Waldes zurückzuziehen. Durch regelmäßiges Üben ihrer eigenen, selbst geschaffenen Melodien, war ihr Flötenspiel inzwischen angenehmer für fremde Ohren. Bereits einige Male hatten zufällige Zuhörer ihr bereits gesagt, dass sie ausgesprochen gern der Flöte lauschten. Sie spielte trotzdem nur ungern in Gesellschaft und fühlte sich dann stets befangen und unsicher.

* * *

Plötzlich bemerkte Alexander eine Bewegung auf dem Pfad unterhalb. Kam sie schon? Nein, es war nur ein Reh, das den Weg kreuzte. Aufatmend wandte er sich von der Mauer ab und ging zurück nach oben auf die Lichtung. Von hier aus konnte er den Weg zum Dorf gut überblicken, war aber selbst hinter dem niedrigen Gebüsch nicht zu sehen. Er setzte sich in das sonnenwarme Gras, lehnte den Rücken an einen großen, grauen Felsen und ließ den Kopf nach hinten gegen den Stein sinken.
Kleine weiße Wolkenfetzen zogen langsam ihre Bahn und die Sonne wärmte seine schmerzenden Glieder. Schmerz war seit dem Feuer sein ständiger Begleiter. Die Brandnarben hatten am Fuß und an der Hand die Haut zusammen gezogen, so dass die Gelenke nicht mehr richtig beweglich waren. Die Hand konnte er nicht mehr ganz öffnen und er hatte auch nicht die normale Kraft in den Fingern. Der Fuß dagegen ließ sich nicht mehr vollständig beugen, so dass die Ferse beim Laufen den Boden nicht berührte. Das hatte ihm ein Hinken eingebracht und durch die ungleichen Bewegungen schmerzte nach längerem Laufen seine ganze rechte Seite. Die Wärme der Frühlingssonne entspannte jedoch die verkrampften Muskeln und Alexander streckte Arme und Beine bequem aus.

Die bewegende Flötenmelodie, wie aus einem Traum, erklang von unten. Er schrak zusammen und sprang auf. Sie war schon da und spielte ihre wunderbare Musik! Warum hatte er sie nicht kommen sehen? Es war bereits dämmrig, er musste eingeschlafen sein.
Fröhlich klangen die Töne heute. Klar und ruhig, wie das fließende Wasser im Bach und der Schimmer der Sonnenstrahlen durch das Laub der Buchen. Die Melodie war so wunderschön, warm und weich, dass Alexander kurz die Augen schloss und nur lauschte. Sein Herzschlag beschleunigte sich bei der Erinnerung an die schmale, anmutige Gestalt, die er gestern gesehen hatte.
Von der Lichtung aus konnte er nicht den Platz unter dem Steinbogen sehen. Nur ein wenig näher wollte er herangehen, ganz vorsichtig. Vielleicht könnte er einen Blick auf das Instrument erhaschen, von dem er inzwischen sicher war, dass es eine Flöte sein musste. Die Frau würde ihn sicher nicht bemerken, nur einen ganz vorsichtigen Blick würde er riskieren.
So leise wie möglich stieg Alexander den steilen Hang hinunter, während die Melodie immer neue Höhen und Tiefen in ihrem perlenden Klang vereinte. Fast am Steinbogen angekommen, hielt er inne und spähte durch das Dickicht, das den Weg säumte. Er sah ihre schmalen Schultern und den langen Zopf, der über ihrem Umhang im Rhythmus der Melodie leicht wippte. Ihre geschmeidigen Bewegungen waren ganz im Einklang mit der Melodie und verzauberten ihm. Er stand stocksteif da, sein Herz raste und wieder zog dieser Schmerz seine Brust zusammen. Gestern war sie so nah an ihm vorbei gegangen, jetzt schien ihm die Entfernung zwischen ihnen unendlich groß. Die Sehnsucht nach Nähe, nach einem Menschen, der seine Einsamkeit vertrieb, ließ ihn noch weiter nach vorn treten. Wenn er wenigstens die Flöte und vielleicht sogar ihr Gesicht sehen könnte. Nur ein einziges Mal wollte er sie ansehen.
Ein Ast knackte unter seinem Fuß.
Jäh brach die Melodie ab und die Flötenspielerin sprang von der Mauer.
Nein! Das durfte nicht passieren!
Wenn sie jetzt ging, kehrte sie vielleicht nie zurück. Sie hatte sich erschreckt und würde sich davor fürchten, hier noch einmal zu spielen. Das durfte nicht sein. Irgendwie musste er sie aufhalten. Er konnte diese wundervolle Musik und ihre Gegenwart nicht so schnell wieder verlieren.
Alexander holte tief Luft und tat das Undenkbare.
„Meine Dame, habt keine Angst. Ich wollte Euch nicht erschrecken, es tut mir leid.“ Seine Stimme klang rau, was nicht verwunderlich war. Zu lange hatte er mit keiner Menschenseele gesprochen.
Die Flötenspielerin lief nicht fort, sondern wandte sich in seine Richtung. Er fuhr zusammen und wich sofort in das Unterholz zurück. Hoffentlich hatte sie ihn noch nicht gesehen.
„Meine Flöte hat heute Abend also einen Zuhörer“, stellte sie fest, mit deutlicher Erleichterung in der Stimme. „Kommt doch heraus, sodass ich erkennen kann, wer Ihr seid.“ Sie machte zwei Schritte nach vorn.
„Nein, bitte kommt nicht näher. Ihr dürft mich nicht ansehen!“ Alexander zog sich hastig weiter zurück. Was hatte er getan? Wie hatte er sie ansprechen können? Jetzt stand sie vor seinem Versteck und beinahe müsste sie ihn hier zwischen den Ästen erkennen können.
Sie war so schön, ihr zartes Gesicht strahlte im Abendlicht, das durch die zitternden Buchenblätter rieselte, und der offene, braune Umhang ließ ihre schmale Gestalt in dem sandfarbenen Kleid zart und zerbrechlich wirken. Ihre Stimme war weich und die Art, wie sie die Worte betonte, hörte sich fremd und zugleich vertraut an. Es erinnerte Alexander an seine Pagenzeit, die er bei einer befreundeten Familie verbracht hatte, in der Burg von Valenciennes, die zur Grafschaft Chambrais gehörte.
„Verzeiht, meine Dame. Ich wollte Euch nicht unterbrechen. Bitte nehmt doch wieder auf der Mauer Platz und spielt weiter, ich werde Euch von hier aus zuhören.“
Sie durfte ihn auf keinen Fall sehen. Sie würde wie die Menschen im Dorf auf seinen Anblick reagieren und sich erschrocken und voller Angst abwenden. Ein kalter Schauer fuhr über seinen Rücken, allein bei dem Gedanken.
„Warum versteckt Ihr Euch? Ihr habt mich zu Tode erschreckt und müsst hervorkommen, um Euch ordentlich zu entschuldigen. Ich kenne Euch nicht und wüsste gern, wer hier im Wald meiner Flöte zuhört.“
Alexanders Gedanken rasten in dem verzweifelten Versuch, irgendeine Erklärung für sein seltsames Verhalten vorzubringen. Noch bevor er zu einem Entschluss gekommen war, sprach sie weiter.
„Nun gut, wenn Ihr Euch nicht vorstellen möchtet, so ist das Eure Sache. Ich kann Euch ja zumindest sagen, wer ich bin. Mein Name ist Leah und ich bin die Tochter des neuen Stallmeisters. Ihr kennt mich wahrscheinlich noch nicht, weil wir erst vor Kurzem hier angekommen sind. Ich habe noch lange nicht alle Leute des Dorfes kennengelernt.“
Er stieß erleichtert die Luft aus und bemerkte erst jetzt, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Wenn sie mit ihrem seltsamen Akzent so schnell sprach, musste er gut hinhören, um sie zu verstehen, aber einiges war ihm jetzt klar geworden. Sie lebte noch nicht lange in Gehrenburg und hatte noch nicht davon gehört, dass er oben in der alten Bergfeste wohnte, sonst wäre sie wohl niemals hierher gekommen.
Im Dorf wussten sie, dass der Kapuzenmann in der alten Burg wohnte. Die Jäger und Holzfäller mieden daher diesen Teil des Waldes, um ihm nicht zufällig zu begegnen. Kapuzenmann nannten sie ihn schon seit Jahren. Wenn er ins Dorf ging, riefen die Kinder: „Der Kapuzenmann kommt“, während sie vor ihm wegliefen. Natürlich würde auch ihr jemand früher oder später von ihm erzählen. Wenn sie im Dorf von ihrer Begegnung mit einem unbekannten Fremden sprechen würde, könnte sie sich sofort die ganze Geschichte über ihn anhören.
Dann würde sie nicht mehr herkommen.
Er musste sich schnell etwas einfallen lassen. Sein Herz raste immer noch und seine Gedanken jagten in verschiedene Richtungen. Da kam ihm die rettende Idee. „Bitte verzeiht meine Unhöflichkeit. Natürlich muss ich mich ebenfalls vorstellen. Ich bin der Sohn des Schmieds, aber ich habe mir in diesem Gesträuch die Hose zerrissen. So kann ich unmöglich unter Eure Augen treten.“ Der erste Teil war sogar fast die Wahrheit. Er hatte sich früher oft gewünscht, der Sohn des Schmieds zu sein und auch einiges von dessen Handwerk gelernt.
Sie lachte ein glockenhelles Lachen und antwortete mit einem belustigten Unterton: „Wenn das so ist, bleibt lieber wo Ihr seid. Es ist allerdings schon fast dunkel. Ich muss zurück und kann heute Abend nicht mehr für Euch spielen, morgen vielleicht.“ Sie wandte sich ab und lief eilig auf dem Weg zum Dorf herunter.
Alexander lehnte sich schwer an den Stamm der großen Buche. Sein Herz hämmerte noch immer so heftig gegen seine Rippen, als wäre er den ganzen Berg hinaufgerannt.
Sie hatte mit ihm gesprochen.
So lange hatte niemand mehr mit ihm gesprochen, dass er ganz vergessen hatte, wie sich das anfühlte. Ihre Stimme war so freundlich und warm. Sie hatte keine Angst vor ihm gehabt und war nicht fortgelaufen. Sie hatte sogar gelacht, ein wundervolles helles Lachen, das ihn tief berührt hatte. Und sie würde vielleicht morgen wieder herkommen. Das war alles so unglaublich. Ihr zartes Gesicht und ihre weiche Stimme hatten sich tief in sein Gedächtnis gegraben und er wollte am liebsten einfach hierbleiben, bis sie zurückkehrte. Zögerlich trat er an den Mauervorsprung und strich mit den Fingerspitzen über den rauen Stein, auf dem sie gesessen hatte. Würde sie wirklich morgen wiederkommen?

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