Eine außergewöhnliche Lady
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Taschenbuch eine außergewöhnliche Lady

Eine lange Leseprobe findest du unten auf dieser Seite.​

Über das Buch

Lady Diana Derenham ist anders.
Als Tochter eines fortschrittlichen Landarztes hat sie viel gelesen und gelernt, darf jedoch von all dem Wissen nichts anwenden. Sie ist Enkelin eines Earls, aber dennoch nicht gut genug für die feine Gesellschaft. Als Witwe eines Offiziers ist sie finanziell abgesichert, aber einsam in ihrem leeren Landhaus.
Außerdem sieht sie etwas, das anderen verborgen bleibt.
Jeder Mensch hat für Diana eine besondere Farbe, die den Charakter widerzuspiegeln scheint. Das muss selbstverständlich ihr Geheimnis bleiben, denn man würde sie für verrückt halten.
Ein Jahr nach dem Tod ihres Ehemannes trifft sie auf der Reise nach London auf Lord Ampton. Auch er ist auf faszinierende Weise anders, doch kaum sind sie sich begegnet, ist sein Leben in Gefahr. Eine konkurrierende Schifffahrtsgesellschaft scheint den jungen Unternehmer rücksichtslos aus dem Geschäft drängen zu wollen, und ist dabei offensichtlich bereit, über Leichen zu gehen.
Diana steht mutig an der Seite des Lords – wohl wissend, dass sie selbst zum Ziel der feigen Anschläge werden könnte …
Begleiten Sie Helena Heart mit ihrem Debutroman auf einer Reise nach England zum Ende des 18. Jahrhunderts. Eine spannende Geschichte um besondere Menschen, die gesellschaftlichen Konventionen trotzend ihren eigenen Weg suchen. Eine Geschichte um Missgunst und Verrat, aber auch Freundschaft und Loyalität, Liebe – und viele Farben.

 

Extralange Leseprobe von "Eine außergewöhnliche Lady"

Kapitel 1

Auf der Themse vor London im Mai 1763

Diana stand an der Reling und sah auf das schäumende Wasser hinunter. Möwen kreisten hoch über dem Schiff und sie sah unwillkürlich zum Himmel auf, an dem kleine Wölkchen wie eine Herde Schafe entlangzogen. Sie atmete tief ein und es duftete nach Meer und Freiheit. Sehnsüchtig dachte sie zurück an all die Jahre, in denen das Landhaus an der Küste, in der Nähe der Hafenstadt Great Yarmouth, ihr geliebtes Zuhause gewesen war. In den nächsten Monaten würde sie dazu gezwungen sein, die stickige Luft Londons zu atmen.
Sie schloss die Augen in einem Anflug von Reue über diese Entscheidung.
Nein, sie musste nach vorn blicken. Zu viel hatte sie verloren und zu lange hatte sie sich dem Schmerz hingegeben. Nun war es Zeit, wieder ins Leben zurückzukehren und die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Als sie wieder aufsah, lief ihr Blick wie von selbst an der Vertäuung des Ankers entlang und selbstvergessen studierte sie den seemännischen Knoten, mit dem das dicke Seil angeschlagen war.
Sie runzelte die Stirn.
Etwas daran stimmte nicht. So war die Schlinge nicht richtig ausgeführt.
Während sie die Seile und deren Befestigungen genauer inspizierte, beschleunigte sich ihr Herzschlag.
Die Aufhängung des Ankers würde sich beim Anlegen lösen und er würde gerade eben bis zur Wasserlinie herabrutschen. Es war unvermeidlich, dass der Druck der Kaimauer die spitze Fluke des Ankers in das Holz bohren würde und durch den Wassereinbruch bekäme das Schiff sofort Schlagseite. Alle Passagiere würden zu diesem Zeitpunkt zum Ausstieg direkt an der Reling stehen. Einige könnten unter dem Geländer hindurchrutschen, würden genau zwischen Schiff und Kaimauer ins Wasser fallen und dort zerquetscht. Während sich in ihrem Kopf die Bilder eines furchtbaren Unglücks überschlugen, hatte sie unwillkürlich den Atem angehalten. Ihr Körper verlangte inzwischen nach Sauerstoff, und so stieß sie mit einem Schnauben die Luft aus, als sich ihr eine Frage aufdrängte.
War das wirklich die Nachlässigkeit eines ungeschickten Schiffsjungen oder gar eine bewusste Sabotage?
Wie auch immer, sie musste ihre Beobachtung sofort dem Kapitän mitteilen, damit das Schlimmste verhindert werden konnte. Gott sei Dank war bis zur Ankunft in London noch Zeit, und bis dahin stellte der Anker keine Gefahr dar.
Sie stieß sich vom Geländer ab und ging die steile Treppe zur ein Deck tiefer gelegenen Kapitänskajüte hinunter. Vor der weiß gestrichenen Holztür hielt sie inne und wappnete sich vor der Begegnung mit dem Kapitän.
Sie streckte die Hand aus und klopfte energisch, doch auf eine Antwort wartete sie vergebens. Ein zweites Pochen brachte auch kein anderes Ergebnis. Mit einem entschlossenen Griff drehte sie den Messingknauf und öffnete die Tür.
Sprachlos sah sie sich in dem kleinen, völlig überfüllten Raum um. Die dunklen Mahagoniwände waren über und über mit blassen Papieren behängt, die wie Seekarten aussahen. Auf der rechten Seite erstreckten sich Regale über die gesamte Länge der Wand, die mit vergilbten Papierrollen verschiedener Größe und Dicke gefüllt waren.
Zögerlich trat sie einige Schritte in den Raum hinein, bis sie vor einem großen Tisch stehen blieb. Er war ebenfalls mit ausgebreiteten Papieren bedeckt, die allerdings völlig andere Zeichnungen zeigten. Nichts davon hatte mit Schiffen zu tun, zumindest glaubte sie das. Am Ende des Raums war ein merkwürdiges Objekt, das an ein an Seilen aufgehängtes Kastenbett erinnerte, außerdem sah sie einen Schrank und einen kleinen Nachttisch. Erst dadurch wurde deutlich, dass es sich eigentlich um eine Schlafkabine handelte.
Diana war klar, dass sie diesen privaten Raum, in den sie eingedrungen war, umgehend wieder verlassen musste. Dennoch zögerte sie. Sie hätte sich doch zu gern wenigstens für einen Moment die Zeichnungen auf dem Tisch angesehen.
Ein Geräusch von der Tür ließ sie herumfahren.
Der gesamte Türrahmen wurde von einer dunklen Gestalt ausgefüllt, die sie im Gegenlicht der Sonne nicht erkennen konnte.
„Wer sind Sie und was tun Sie in diesem Raum?“, donnerte eine befehlsgewohnte, tiefe Stimme.
Diana schluckte und wich unwillkürlich ein Stück zurück, der ausladende Tisch stoppte sie jedoch sofort.
Der Fremde machte einen Schritt auf sie zu, wodurch er noch bedrohlicher wirkte und das von der Tür hereinscheinende Licht völlig abschirmte.
„Würden Sie die Freundlichkeit haben, mir zu antworten?“ Die wohlgesetzten Worte konnten nicht über den drohenden Klang seiner Stimme hinwegtäuschen.
Sie fixierte die Holzwand neben der Tür und hoffte, ihre Antwort würde nicht wie das Piepsen einer Kirchenmaus klingen. „Mein Name ist Diana Derenham und ich suche den Kapitän.“
Entschlossen sah sie zum Gesicht des Hünen hoch und versuchte dem stechenden Blick aus dunkelbraunen Augen standzuhalten.
Einige Strähnen seiner schwarzen Haare hatten sich aus dem strengen Zopf gelöst und hingen vom Wind zerzaust in die Stirn. Sie boten einen scharfen Kontrast zu seiner hellen Haut. Die markante Nase und die kantigen Wangenknochen ließen seinen Gesichtsausdruck bedrohlich wirken. Der Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepresst und verstärkte den ärgerlichen, fast schon bitteren Ausdruck der Augen.
„Sie sind nicht der Kapitän“, stellte sie in ruhigem Ton fest, da sie den kleinen, rundlichen Mann bereits beim Ablegen im Hafen gesehen hatte. Erleichtert bemerkte sie, dass ihre Stimme viel sicherer klang, als sie sich unter dem feindseligen Blick des Riesen fühlte.

* * *

Vor ihm stand die erstaunlichste Frau, die er je gesehen hatte, und sie starrte ihm offen und direkt ins Gesicht. Normalerweise wandten die Damen ihren Blick schnell wieder ab. Er wusste, dass er kein attraktiver Mann war und dass seine harten Gesichtszüge, zusammen mit seiner Körpergröße, die meisten Menschen einschüchterten. Als er in die Kajüte getreten war, hatte er diesen Effekt auch durchaus beabsichtigt.
Sie war groß für eine Frau und würde ihm bis zur Nase reichen, wenn sie nicht halb auf dem Kartentisch mit seinen Zeichnungen säße. Außerdem war sie deutlich schmaler als die meisten Damen der gehobenen Gesellschaft. Die Größe und das eher schlichte Kleid mit einem vergleichsweise schmalen Reifrock ließen sie zart und biegsam wirken. Wie es üblich war, reichten die Ärmel des Kleides nur bis knapp über den Ellenbogen und der Unterarm wurde von einem langen Volant weißer Spitze bedeckt. Als sie die Hand hob, fiel der Stoff nach hinten und entblößte ihren schmalen Unterarm und die grazile Hand.
Hastig wandte er seinen Blick wieder ihrem Gesicht zu. Ihre Haut war entgegen der Mode deutlich gebräunt, und dadurch leuchteten die hellblauen Augen wie Aquamarine in ihrem schmalen Gesicht. Er versank darin.
„Und wer sind Sie?“, verlangte sie zu wissen.
Der warme Klang ihrer Stimme riss ihn aus seinen Betrachtungen und er drehte den Kopf mit einem Ruck zur Seite. Ihr Anblick hatte ihn auf eine äußerst beunruhigende Art berührt, und ohne dass er es selbst bemerkt hatte, war seine Hand zur Uhrkette gefahren. Er zog sie immer wieder durch seine Finger und das gleichmäßige Vibrieren, das die Kettenglieder bei der schnellen Bewegung zwischen seinen Fingerkuppen auslösten, gab ihm wieder etwas Ruhe zurück.
Er warf einen flüchtigen Blick auf die aufwändig verzierte Taschenuhr, um der Tatsache, dass er sie in der Hand hatte, einen Sinn zu geben, dann trat er einen Schritt zurück und verbeugte sich steif.
„Ich bin nicht der Kapitän, sondern der Besitzer des Schiffes. Mithras Redgrave, Baron Ampton. Sehr erfreut, Lady Derenham.“
Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, das dem Aufgehen der Sonne glich.
„Sol Invictus, der unbesiegte Sonnengott der römischen Mythologie.“ Bei diesen Worten strahlte sie ihn an, als wäre er etwas ganz besonders Wertvolles.
Sein Herz stolperte kurz und er musste tief Luft holen, ehe er antworten konnte. „Sie sind tatsächlich die Erste, die meinen Vornamen offensichtlich schon einmal gehört hat.“ Ein kleines Lächeln zuckte um seinen Mund. „Leider kann ich meinem Namensvetter in keiner Weise gerecht werden.“
„Ein sehr ungewöhnlicher Vorname. Darf ich fragen, wie Sie dazu kommen?“ Nachdem sie den Satz ausgesprochen hatte, zuckte sie ein wenig zusammen und senkte den Blick. „Verzeihen Sie, das geht mich natürlich überhaupt nichts an. Eine dumme Angewohnheit von mir, zuerst zu reden und erst hinterher nachzudenken.“
Ein seltsames Gefühl von Sympathie stieg in ihm auf, als die selbstbewusste Lady, die noch vor wenigen Augenblicken vor seinem polternden Auftritt nicht gewankt hatte, jetzt plötzlich aufgrund ihrer eigenen Worte unsicher wurde.
„Das werde ich Ihnen vielleicht irgendwann einmal erzählen. Immerhin haben Sie ja selbst den Namen einer römischen Gottheit. Jetzt wüsste ich aber gern, was Sie in der Kajüte des Kapitäns verloren haben.“
Sie straffte die Schultern und sah ihn wieder mit ihren erstaunlichen, hellen Augen geradeheraus an. „Ich muss dem Kapitän von einer Beobachtung berichten, die ich bei meinem Spaziergang an der Reling gemacht habe. Es besteht Gefahr für das Schiff, wenn wir anlegen.“ Während sie sprach, stieß sie sich vom Tisch ab und baute sich in ihrer ganzen Größe vor ihm auf. „Da Sie nun der Besitzer des Schiffes sind, kann ich es genauso gut Ihnen mitteilen. Ich hatte den Eindruck, jemand hat die Aufhängung des Ankers manipuliert, so dass er beim Anlegen bis zur Wasserlinie herunterfällt. Er würde dann zwischen Kaimauer und Schiff hängen und die Spitze würde sich durch den Druck in den Schiffsrumpf bohren.“
Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Wieso sollte jemand so etwas tun, Mylady, und wie wollen Sie erkennen, dass der Anker beim Anlegen herunterfallen wird?“
Ihre Augen blitzten auf und sie schnaubte entrüstet. „Ich dachte mir, dass Sie mir nicht glauben würden. Es ist ganz offensichtlich, wenn man die Aufhängung ansieht. Aber natürlich trauen Sie einer Frau nicht zu, selbst solch einfache Mechanik zu verstehen. Daher muss ich Sie auffordern, sich das Ganze selbst anzusehen. Bitte folgen Sie mir.“ Damit ging sie auf die Tür zu und es blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Schritt zur Seite zu treten, um ihr auszuweichen. Er wollte noch etwas erwidern, aber sie war schon nach draußen gestürmt und auf dem Weg zur Treppe.
Mit wütend zusammengepressten Lippen folgte er ihr. Was bildete diese Frau sich ein? Erst drang sie unbefugt in die Kabine des Kapitäns ein und nun musste er ihr nachlaufen wie ein Schiffsjunge. So attraktiv sie auch sein mochte, ein so undamenhaftes Benehmen war unentschuldbar.
Mit einer ungeduldigen Geste strich er seine aus der Fasson geratenen Haare zurück und stieg die Treppe zum Deck hinauf.
Erst als sie an der Reling angekommen war, drehte sie sich zu ihm um und gestikulierte erklärend in Richtung der Befestigung des Ankers.
„Sehen Sie? Wenn diese Leine hier zum Festmachen am Poller hinübergeworfen und strammgezogen wird, löst sich diese Schlaufe und dann rutscht der Anker senkrecht hier an der Bordwand herunter. Dicht unter der Wasserlinie müsste er hängenbleiben, wenn man die Länge des Taus betrachtet.“
Erstaunt holte er Luft, während er sich die Seile ansah.
Die Haltekonstruktion war tatsächlich manipuliert worden und was sie sagte, war vollkommen korrekt. Er winkte einen Matrosen heran, um den Anker wieder sicher zu befestigen.
Die bauchige Konstruktion dieser Fleute war gut geeignet für große Mengen Fracht, daher besaß er eine stattliche Anzahl Schiffe dieses Typs. Allerdings machten das schmale Deck und der ausladende Rumpf, mit der breitesten Stelle unmittelbar an der Wasserlinie, diese Art der Sabotage überhaupt erst möglich.
Er musste schlucken, als ihm das Ausmaß der Katastrophe bewusst wurde, die sie nun verhindern konnten. Einen Moment lang brachte er kein Wort heraus bei der Vorstellung, wie viele Menschenleben diese simple Manipulation möglicherweise gekostet hätte, wäre sie nicht entdeckt worden.
Er wusste, dass er Feinde hatte, die auch vor Sabotage nicht zurückschreckten. Seine Schiffe verkehrten hauptsächlich auf dem Kanal und an der Küste, im Gegensatz zu vielen anderen Unternehmen, die auch mit Fracht und Passagieren in die Kolonien segelten. Besonders jetzt, nach dem Ende des Krieges war das Transportgeschäft über den Kanal hart umkämpft. Seine Reederei besaß nicht ausschließlich hochmoderne Schiffe, aber die älteren Modelle waren nach seinen Vorgaben umgebaut worden, was ihnen größere Nutzlasten und einfachere Handhabung einbrachte. Er beförderte neben Personen vor allem große Mengen Güter aller Art, im Verkehr zwischen England und dem europäischen Kontinent.
Natürlich gab es viele Neider, aber dass sie skrupellos das Leben vieler Unschuldiger gefährden würden, nur um den Ruf seiner Gesellschaft zu beschädigen, das hätte er nie geglaubt.
Warum ausgerechnet dieses Schiff?
Weil er selbst hier war.
Sollte er nicht ohnehin unter den Opfern sein, so wäre er immerhin bei der großen Katastrophe anwesend und das Unglück und sein Name würden stets in einem Atemzug genannt werden.
Er räusperte sich, um sicherzugehen, dass seine Stimme klang wie immer, als er dem Jungen befahl, den Kapitän zu ihm in die Kajüte zu schicken.
Die Finger seiner linken Hand bewegten sich inzwischen in hektischem Tempo über die Uhrkette, während er sich wieder zu der Dame umwandte. „Lady Derenham, wären Sie so freundlich, mich nach unten zu begleiten?“
Er bot ihr seinen Arm und sie hakte sich ohne Zögern bei ihm unter. Das Schiff schien stärker zu schaukeln als gewöhnlich. Eigentlich war ihm das stete Schwanken bislang nicht aufgefallen und er neigte auch nicht zur Seekrankheit. Aber in diesem Moment wurde ihm ein wenig übel, und so war er nicht sicher, ob er ihr oder eher sie ihm den nötigen Halt bot, die Treppe hinabzugehen.
Schweigend traten sie in den Raum zurück und er schloss die Tür hinter sich.
„Ich benötige jetzt etwas Kräftiges, darf ich Ihnen auch eine Erfrischung anbieten?“
Wortlos schüttelte sie den Kopf und trat wieder an den Kartentisch.
Die Frage, wer von seinen Konkurrenten zu so einer perfiden Tat imstande wäre, raste durch seinen Kopf und er blieb immer wieder bei einem Namen hängen: Great Northern Shipping.
Mit einem grimmigen Gesicht trat er zu dem Bartisch, in dessen Vertiefungen einige Getränke und Gläser bereitstanden. Schwungvoll schenkte er sich eine ordentliche Portion Whisky ein und kippte ihn in einem Zug hinunter. Dann wandte er sich zu ihr um. „Mylady, ich kann Ihnen nicht genug danken für Ihre Aufmerksamkeit und dafür, dass Sie mir von Ihren Beobachtungen berichtet haben.“
Er stockte und suchte nach passenden Worten, als die Kabinentür aufgerissen wurde.

* * *

Diana fuhr erschrocken herum, als der Kapitän hereinstürmte und die Tür krachend hinter sich zuwarf.
„Was ist hier los? Und was tut diese Frau hier in meiner Kajüte?“
Der Mann, dessen helle Uniform über seinem Bauch spannte, als wollten die polierten Messingknöpfe gleich abspringen, wirkte neben dem Baron wie ein Zwerg. Diana konnte sich ein Grinsen gerade noch verkneifen, als sie bei dem wütenden Gebaren des Kapitäns neben der majestätisch aufragenden Gestalt des Barons unwillkürlich an einen Gnom aus einem Märchen denken musste.
Und dann war da noch seine Farbe, die seinen Körper umstrahlte. Es war ein leuchtendes Sonnenbrandrot, das ihr bei seinem Anblick sofort in den Sinn kam.
Wie seltsam – das schien gar nicht zu seiner eher gemächlichen Figur zu passen.
Es passierte ihr häufig, dass sich beim Anblick einer Person spontan eine Farbe aufdrängte, die zu der jeweiligen Persönlichkeit gehörte. Bei anderen Menschen wiederum dauerte es länger, ehe sie die ihrem Wesen entsprechende Farbe erkennen konnte. Diese spontane Zuordnung der Farbe zu einer Persönlichkeit war manchmal überraschend, aber Dianas Eindruck stellte sich dann bei näherem Kennenlernen meist als richtig heraus.
Im nächsten Augenblick drehte der Gnom sich zum Baron herum und begann, sich wortreich für sein Auftreten zu entschuldigen.
„Verzeihung Mylord, der Bursche sagte, es wäre etwas am Anker nicht in Ordnung gewesen, daher war ich einen Moment lang aus der Fassung. Selbstverständlich habe ich persönlich die korrekte Befestigung überwacht, nachdem wir ausgelaufen sind. Ich kann es mir nicht erklären.“
Obwohl der Kapitän sich offensichtlich sehr zusammennahm, sprachen seine ausholenden Handbewegungen und seine leuchtende Gesichtsfarbe eine deutliche Sprache.
In wenigen Worten erklärte der Baron seine Vermutung einer bewussten Sabotage und wies ihn an, das übrige Schiff nach weiteren Anzeichen von Manipulation untersuchen zu lassen. Bei dem Wort „Sabotage“ wurde der Kapitän blass.
„Mylord, ich kann es mir nicht erklären. Das würde ja bedeuten, ein Mitglied meiner Crew … die Loyalität meiner Mannschaft, meine eigenen Leute … Ich fasse es nicht.“ Er warf die Arme hoch, während er auf dem engen Raum zwischen Tür und Tisch hin und her lief und mehr zu sich selbst zu sprechen schien.
„Kapitän, bewahren Sie über diesen Verdacht Stillschweigen, aber gehen Sie jetzt, und kontrollieren Sie das übrige Schiff.“
Der Baron schien neben dem fassungslosen Kapitän ein Fels in der Brandung zu sein und stand mit unbeweglicher Miene neben der Tür. Nur an dem Spielen mit der Kette seiner Taschenuhr konnte Diana erkennen, dass auch er offenbar nicht so ruhig war, wie es den Anschein hatte. Als er ihren Blick bemerkte, zuckte er kaum merklich zusammen, klappte die Uhr auf und sah darauf. Dann steckte er sie ein, aber nur einen Atemzug später spielten seine Finger weiter.
Sie war sicher, dass er nicht wusste, wie spät es war, und dass es ihn auch nicht interessierte. Diese kleine Eigenheit des Barons entlockte ihr ein verstohlenes Grinsen, während sie weiter den Austausch der Männer beobachtete.
„Ja, Schiff kontrollieren. Natürlich nicht darüber sprechen. Wir wissen ja nicht, wer es war. Oh mein Gott, meine Crew.“ Mit diesen Worten stürmte der Kapitän aus dem Raum und vergaß in seiner Eile sogar, die Tür zu schließen.
Kaum war der Mann verschwunden, wandte sich Lord Ampton wieder zu ihr um. „Sie haben mit Ihrer mutigen Tat heute wahrscheinlich viele Leben gerettet. Dies war ein verabscheuungswürdiger Sabotageakt, der offensichtlich dazu dienen sollte, dem Ruf meiner Reederei zu schaden. Auch Sie möchte ich bitten, über die Vorkommnisse Stillschweigen zu bewahren.“ Er hielt inne, schien noch etwas sagen zu wollen, aber die passenden Worte nicht zu finden.
 „Nein Mylord, es war nichts besonders Heldenhaftes daran, Ihnen über meine Beobachtungen Bescheid zu geben. Seien Sie versichert, dass nichts über die Angelegenheit durch mich an die Öffentlichkeit dringen wird. Ich bin mir im Klaren darüber, was das für Ihren Ruf bedeuten würde.“
Sie schüttelte den Kopf, während sie zu ihm aufsah, und bemerkte, wie sein undurchdringlicher Blick sie fixierte. „Ich habe kein Interesse daran, Ihnen zu schaden“, bekräftigte sie daher noch einmal.
Er senkte den Kopf und atmete erleichtert aus. „Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Leider habe ich viele Neider, und ich werde auf jeden Fall alles daransetzen, herauszufinden, wer hinter dieser Tat steckt.“
Er machte einen Schritt auf sie zu, so dass sie vor seiner überwältigenden Präsenz in der engen Kajüte beinahe nach hinten ausgewichen wäre.
„Darf ich Sie bis zum Anlegen zu einer Tasse Tee einladen?“
Erleichtert stellte sie fest, dass seine breiten Schultern und seine außerordentliche Größe jetzt nichts Bedrohliches mehr hatten, wie bei ihrer ersten Begegnung vor einer Viertelstunde. Seine Stimme klang immer noch sehr tief, aber weniger hart und auch sein Gesichtsausdruck war deutlich freundlicher. Daher zögerte sie nur kurz, bevor sie beschloss, seine Frage einfach zu ignorieren und stattdessen sein Interesse auf den Tisch zu lenken.
„Als ich hereinkam, sah ich diese Zeichnungen hier liegen. Dabei handelt es sich nicht um Schiffe. Die gehören also wahrscheinlich nicht dem Kapitän, oder?“ Sie beobachtete aus dem Augenwinkel seine Reaktion, während sie sich zum Tisch umwandte und das oberste Blatt studierte.
Seine Mundwinkel zuckten nach oben, als er ebenfalls an den Tisch herantrat und das Papier nach vorne zog. „Sie interessieren sich für Konstruktionszeichnungen?“
Sie glaubte, einen ironischen Unterton herauszuhören, und Ärger über die Überheblichkeit der Männer wallte wieder in ihr hoch. Nie konnte sich ein Gentleman vorstellen, dass solche Dinge auch eine Frau interessieren könnten. Noch weniger konnten sie zugeben, dass sie sogar ziemlich viel davon verstand und die Darstellungen oft schneller durchschaute als ihre männlichen Gesprächspartner.
„Ja, ich interessiere mich schon seit meiner Kindheit für solche Dinge. Die Zeichnungen von Leonardo da Vinci, wie diese hier, habe ich bereits eingehend studiert. Auch wenn seine Malerei die Menschen am meisten bewegte, denke ich, dass der Erfindergeist, der in seinen Konstruktionen zu sehen ist, sein eigentliches Talent war.“
Lord Ampton hob die Brauen und ein kleines Lächeln zuckte um seine schmalen Lippen.
„Sie sind eine außergewöhnliche Dame, Lady Derenham. Ich freue mich, dass Sie meinen Enthusiasmus für da Vincis Konstruktionen teilen. Das hier sind in der Tat nicht die Unterlagen des Kapitäns, sondern meine.“

* * *

Nur mit Mühe konnte Mithras seine Augen von Lady Derenhams schmalen Gesicht abwenden und die Zeichnung ansehen, die sie interessierte.
Noch einmal stellte er fest, dass sie die erstaunlichste Frau war, der er bisher begegnet war. Nicht nur ihre offensichtliche Bildung und ihr Interesse für Technik waren bemerkenswert. Auch ihre hochgewachsene und zugleich zarte Erscheinung und die Selbstsicherheit, die ihm gegenüber nur wenige Menschen an den Tag legten, faszinierten ihn.
So nah sie in diesem Augenblick neben ihm am Kartentisch stand, fühlte er ihre Wärme sogar durch den Stoff seines Rocks und den Hemdärmel hindurch. Es durchfuhr ihn bei der Berührung das seltsame Gefühl von Anziehung, wie wenn man zwei Magnete zusammenbrachte. Mühsam unterdrückte er den Impuls, seine Hand auf ihre zu legen.  Einen Augenblick lang hatte er die verrückte Vorstellung, er würde nie wieder von ihrer Seite weichen können.
Als sie sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihm drehte, war ihr Gesicht seinem erschreckend nah. Seine Hand begann wieder, die Kette der Taschenuhr mit monotoner Gleichmäßigkeit zwischen seinen Fingern hindurchzuziehen.
Er musste zugeben, dass diese unerwartete Nähe ihn nervös machte. Schließlich war er nicht ganz freiwillig mit zweiunddreißig Jahren noch Junggeselle. Trotz des Titels und seines Vermögens hatte sich seit Karolines Unfall keine Frau überwinden können, seine Gesellschaft länger als unbedingt nötig zu ertragen.
Karoline, seine ehemalige Verlobte. Sie war damals die Mauer hinuntergestürzt und man hatte ihm die Schuld daran gegeben. Alle hatten ihn für einen hinterhältigen Mörder gehalten, obwohl man ihn vor Gericht freigesprochen hatte. Niemand wollte sich mehr mit ihm sehen lassen und die gesamte feine Gesellschaft hatte sich von ihm abgewandt.
Schon vorher war er nicht gerade dafür bekannt gewesen, dass ihn die Damen umschwärmten, ganz im Gegenteil. Daher waren seine Auftritte in der Gesellschaft eher den Überredungskünsten seiner Freunde geschuldet als seinem eigenen Vergnügen an diesem Zeitvertreib. Schon lange hatte er sich mit seinem Ausschluss aus der Gesellschaft endgültig abgefunden und war den gesellschaftlichen Ereignissen vollständig ferngeblieben. Er hatte sich in seine Arbeit gestürzt und sich eingeredet, dass es ihm nichts ausmachte, allein zu bleiben. Mit seinen beiden einzigen wirklich guten Freunden kam er aus und konnte auch ohne eine Partnerin an seiner Seite ein zufriedenes Leben führen.
Als er aber jetzt so dicht neben dieser wunderbaren Dame stand, übermannte ihn die Sehnsucht nach liebevoller Vertrautheit und die Leere seines Daseins schlug über ihm zusammen wie eine Welle eisigen Meerwassers.
Er hatte nicht gehört, was sie ihn gefragt hatte oder worüber sie gerade sprach. Mit einem Kloß im Hals wandte er sich ab und ging mit steifen Schritten wieder zu dem kleinen Tischchen hinüber, um sein Glas noch einmal zu füllen.
Sie zog ein kleineres Blatt unter den anderen hervor und kam zu ihm herüber. „Sehen Sie, wie er diese Bauteile seines Fluggerätes genau dem Knochenverlauf eines Vogelflügels angepasst hat.“ Voller Freude und Enthusiasmus für da Vincis Arbeit fuhr sie mit ihren schlanken Fingern über das Papier, als würde sie es liebkosen.
Bei diesem Gedanken beschleunigte sich sein Herzschlag und er zwang sich dazu, einen Schritt zurückzutreten, um erneut ein wenig Abstand zu gewinnen.
Sie hielt inne und sah ihn mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck an. „Sie kennen diese Zeichnungen natürlich in- und auswendig. Ich langweile Sie mit meinem Gerede. Es tut mir leid, ich sollte gehen.“
Ohne dass sein Wille etwas damit zu tun hatte, griff seine Hand nach ihrem Arm und seine Stimme sagte: „Nein, bitte bleiben Sie noch. Was Sie sagen, ist ganz und gar nicht langweilig. Bitte erzählen Sie mir von sich. Woher kennen Sie da Vincis Arbeiten?“
Ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen und sie wandte sich wieder zum Tisch, um das Blatt zurückzulegen. „Mein Vater war Arzt. Für die anatomischen Studien da Vincis hat er sich immer sehr interessiert. Die sind bei Ihren Zeichnungen hier natürlich nicht dabei.“

* * *

Nachdem sie fast eine Stunde vor dem Kartentisch verbracht und über die Zeichnungen und verschiedene neuartige Konstruktionen diskutiert hatten, kündigten die Rufe der Mannschaft das baldige Anlegemanöver an.
Diana war immer noch gefangen von der lebhaften Diskussion und beeindruckt von den schnellen Gedankensprüngen des Barons, denen sie manchmal nur mit Mühe hatte folgen können. Vor allem seine Idee, eine „Newcomen-Dampfmaschine“, wie sie zur Entwässerung in Bergwerken eingesetzt wurde, zum Antrieb eines Schiffes zu nutzen, beeindruckte sie.
Außer ihrem Vater war ihr noch nie jemand begegnet, der ihren Intellekt in dieser Weise herausgefordert hatte. Die meisten Menschen dachten bedrückend langsam und sie hatte immerzu das Gefühl, selbst die einfachsten Zusammenhänge zigmal erläutern zu müssen, ehe ihr Gegenüber begriff.
Fasziniert sah sie an der stattlichen Gestalt des Barons hoch und bedauerte es, sich schon von ihm verabschieden zu müssen. „Das ist das erste Mal, dass ich es schade finde, im Hafen anzukommen. Ich habe unsere Unterhaltung sehr genossen, Mylord.“
Das Bedauern darüber, dass sie ein solch faszinierendes Gespräch wohl so bald nicht wieder führen könnte, ließ sie beinahe laut seufzen.
Sie erinnerte sich an etwas, das ihre Schwägerin Catherine in ihrem letzten Brief erwähnt hatte. „Werden Sie möglicherweise nächste Woche noch in London sein und den Ball bei den Warwicks besuchen?“
Er senkte den Kopf und starrte auf den Boden vor ihren Füßen. „Ich lebe die meiste Zeit hier in der Stadt und werde dieses Mal mehrere Monate in London bleiben, ehe ich wieder zu den anderen Werften reisen muss, aber ich besuche im Allgemeinen keine Bälle.“ Er hob den Blick und sah sie mit seinen dunklen Augen durchdringend an. „Ich muss Ihnen noch einmal für die Aufdeckung der Sabotage danken. Auch ich habe unsere Unterhaltung sehr genossen. Es war mir wirklich eine große Freude, Sie kennenzulernen.“
Es entstand eine kurze Pause, in der sie wieder den Eindruck hatte, dass er nach passenden Worten suchte.
„Bis heute ist mir noch keine Dame begegnet, die sich so intensiv mit solchen Dingen wie den Erfindungen da Vincis beschäftigt hat.“ Seine Stimme wurde deutlich leiser und er hörte sich etwas verlegen an, als er hinzufügte: „Und nur sehr selten habe ich das Glück, dass ich mich so tiefgreifend über ein Thema unterhalten kann, ohne meinen Gesprächspartner zu langweilen oder gedanklich immer wieder zu verlieren. Es hat mich wirklich außerordentlich gefreut.“
Sie lachte und drehte sich noch einmal zu ihm herum. „Ja, ich weiß genau, was Sie meinen, denn mir geht es im Allgemeinen ebenso.“
Er öffnete die Tür für sie und folgte ihr aus der Kajüte. Gemeinsam bestiegen sie die Treppe und auf dem oberen Deck angekommen winkte er einen Schiffsjungen zu sich heran. „Kümmere dich um das Gepäck von Lady Derenham und lass es von Bord bringen.“
Er wandte sich wieder zu ihr. „Verzeihen Sie, ich habe Sie die ganze Zeit von Ihrer Begleitung ferngehalten. Eine Dame wie Sie wird natürlich nicht allein unterwegs sein.“
Diana zuckte gleichgültig mit den Schultern. Natürlich war sie allein. All die Menschen, die ihr einmal nahegestanden hatten, waren nicht mehr da. Es war nun schon mehr als ein Jahr vergangen seit dem Kutschenunfall, der ihre Eltern getötet hatte.
Die Nachricht vom Tode ihres Ehemannes hatte sie genau einen Tag vorher erhalten. Jonas Derenham, den Mann, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten, kannte sie seit ihrer Kindheit. Es war nicht so, dass sie in irgendjemand anderes verliebt gewesen wäre, und Jonas war wirklich ein guter Mensch und auch ein guter Freund gewesen. So hatte sie nichts gegen die Vermählung einzuwenden gehabt, und am Tag ihrer Hochzeit hatte sie wirklich das Gefühl gehabt, das Richtige zu tun.
Mit der Zeit würde die Freundschaft sich vertiefen, vielleicht sogar etwas wie Liebe wachsen, und wenn erst Kinder da wären, würden sie eine glückliche Familie sein. So hatte sie sich das in ihrer jugendlichen Ahnungslosigkeit vorgestellt.
Aber schon kurz nach ihrer Hochzeit hatte er ein Offizierspatent besorgt und sich dem Kampf gegen Frankreich angeschlossen.
Es war bei Jonas nicht das Streben nach Ruhm und Ehre, das so viele andere junge Adelige in den Krieg ziehen ließ. Er glaubte fest daran, es seinem Land schuldig zu sein, es verteidigen zu müssen, und selbstverständlich hatten alle am Anfang noch geglaubt, der Krieg würde höchstens ein oder zwei Jahre dauern. Nach dem Frieden von Paris im vergangenen Februar hatten die Gazetten ihn nun den siebenjährigen Krieg getauft und keine einzige Familie im Königreich war von seinen Auswirkungen verschont geblieben.
In den sechs Jahren ihrer Ehe war Jonas nur einmal jährlich für kurze Zeit nach Hause gekommen und jedes Mal hatte sie sich entfremdeter gefühlt. Der Krieg hatte ihn verändert und von dem fröhlichen Jungen, mit dem sie auf Bäume geklettert war, blieb nach Jahren an der Front nicht einmal ein kleiner Funke übrig.
Das kräftige Saphirblau, das zu seiner starken und offenen Persönlichkeit gehört hatte, war von Jahr zu Jahr farbloser und finsterer geworden, bis zum Schluss nur noch ein dunkles Schiefergrau übrig geblieben war.
Als die Nachricht von seinem Tod eingetroffen war, hatte sie sich selbst gewundert, wie wenig sein endgültiger Verlust ihr bedeutete, nachdem sie ihn bereits über Jahre Stück für Stück verloren hatte.
Im zweiten Kriegsjahr war sein Vater an einem Fieber verstorben und Jonas hatte sowohl den Titel als auch alle damit verbundenen Verpflichtungen geerbt.
Das konnte ihn aber nicht dazu bewegen, die militärische Karriere aufzugeben und sich um die Angelegenheiten der kleinen Baronie zu kümmern. Stattdessen hatte er fast alles verkauft und das Geld angelegt. Nur das Stadthaus, das seine Mutter als Rückzugsort gewählt hatte, und das Landgut, das er als sein Zuhause betrachtete, in dem Diana aber zumeist allein lebte, waren noch geblieben.
Auch wenn Diana sein Handeln damals nicht verstanden hatte, so war sie inzwischen froh, dass er ihr keine Ländereien, sondern ein gut angelegtes Vermögen hinterlassen hatte. Zumindest in finanzieller Hinsicht musste sie sich daher keine Sorgen machen.
Mit einem weiteren Schulterzucken schüttelte sie die Erinnerungen an die Vergangenheit ab.
„Doch, ich reise allein. Ich hoffe, das schockiert Sie nicht zu sehr.“
Noch bevor er etwas antworten konnte, fuhr ein Ruck durch das Schiff, als es an die Kaimauer stieß, und sie sahen sich erschrocken an. In diesem Moment schienen sie beide zugleich an das zu denken, was hätte passieren können, wenn die Sabotage nicht aufgedeckt worden wäre.
Sie standen auf der dem Kai abgewandten Seite des Schiffes, direkt an der Reling, und waren bis auf zwei Schiffsjungen hier völlig allein. Erleichtert sah sie zu der Menschentraube hinüber, die an der Stelle wartete, wo die Passerelle zum Verlassen des Schiffes herabgelassen wurde. Es herrschte ein dichtes Gedränge von Frauen mit ausladenden Reifröcken unter weiten Capes und Hüten, die eher der Dekoration als dem Kopfschutz dienten. Dazwischen die Herren, in weniger farbenfrohen und eher dunklen Überwürfen oder auch nur im Gehrock, denn es war heute sonnig und selbst auf dem Wasser recht warm.
Ein Herr führte zwei Jagdhunde, von denen einer aufjaulte, als ein stürmischer kleiner Junge ihm auf die Pfote trat. Der Mann schimpfte, der Junge versteckte sich hinter dem Rock seiner Mutter, die ihn sogleich vehement verteidigte. Darüber geriet der Herr in Rage und sogleich gaben weitere Umstehende ihre Meinung zum Besten.
Das war Diana eindeutig zu viel und sie beschloss, eine Weile zu warten, bis die Leute von Bord wären und es kein Gedränge an der Reling mehr geben würde.
Mit einem Kopfschütteln wandte sie sich wieder dem Baron zu, als es in unmittelbarer Nähe knallte.
Sie fuhr zusammen, geriet ins Wanken und stützte sich mit einer Hand gegen seine Brust.
Ein Pfeifen klang in ihren Ohren und sie hatte den Drang, sich zu ducken. Dann erst sah sie ihn an.
Es lief rot über seine Stirn. Innerhalb von Sekunden war sein Gesicht voller Blut und der Sturzbach breitete sich sofort auf seinem Hemd aus.
Sie sah den großen Mann neben sich wie in Zeitlupe nach hinten kippen.
Diana starrte ihn an, gelähmt vor Schreck.
Dann streckte sie noch eine Hand in seine Richtung. Ihre Fingerspitzen streiften nur kurz seinen Ärmel.
Er stürzte haltlos über das Geländer und traf mit einem lauten Platschen auf das trübe Wasser. Die Welle schlug über ihm zusammen und im nächsten Moment war er verschwunden.
Ihre Hände krallten sich so fest um das kalte Metall der Reling, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Wie durch einen Nebel nahm sie wahr, wie mehrere Männer ins Hafenbecken sprangen und versuchten den Baron zu retten.
Nach endlos erscheinender Zeit tauchten zwei Matrosen mit seinem leblosen Körper wieder auf und schafften den Hünen unter größter Anstrengung an Deck. Ohne weiter nachzudenken, kniete sie sich neben den riesigen Mann, aus dessen schwarzen Haaren Blut auf die Planken des Schiffes rann und das Wasser, das aus seiner Kleidung triefte, rot färbte. Ein Matrose kniete sich auf der anderen Seite neben ihn und legte ein Ohr auf seine Brust. Als er sich wieder aufrichtete, machte er eine eindeutige Handbewegung. Die Umstehenden nahmen ihre Mützen ab und blickten betreten zu Boden.
„Haben sie ihn nun erschossen, oder ist er ertrunken?“, fragte einer der Männer.
Erst in diesem Moment begann ihr Kopf wieder zu arbeiten. Sie fuhr automatisch, ohne weiter nachzudenken, mit der Hand durch seine Haare und fand sofort die Wunde, aus der das Blut sickerte. Ohne Scheu presste sie ihre Finger auf die Kopfhaut, um festzustellen, ob der Schädelknochen zerborsten war. Nein, seine Verletzung schien oberflächlich zu sein und allzu viel Blut konnte er in der kurzen Zeit auch noch nicht verloren haben.
Mit hastigen Fingern tastete sie nach seinem Puls, fand ihn aber nicht. Sie presste ihr Ohr auf seine Rippen, aber in seiner Brust herrschte erdrückende Stille.
Für einen Augenblick senkte sie den Kopf und presste die Lider zusammen, um sich besser zu konzentrieren.
Wie hatte ihr Vater das damals mit dem ertrunkenen Seemann gemacht?
In allen Einzelheiten erinnerte sie sich wieder an die Bewegung und an die Erklärung, die ihr Vater ihr einige Tage später gegeben hatte.
Dann erhob sie sich auf die Knie und spannte ihren ganzen Körper an. Sie war nur eine zarte Frau und Lord Ampton war ein Riese. Entschlossen ballte sie die Faust und stieß sie mit aller Kraft auf das Brustbein herunter.
Der Hieb ließ seinen Körper erzittern und erzeugte ein seltsames, hohles Geräusch, das Diana beinahe den Magen umdrehte.
„Bitte lebe weiter“, flüsterte sie mehr zu sich selbst, als sie ihr Ohr wieder auf seine Brust presste. Ein leises und hektisches Klopfen trieb ihr die Freudentränen in die Augen.
„Auf den Bauch drehen, sofort!“, herrschte sie die erstaunten Seeleute an, die ihrer Aufforderung wortlos nachkamen.
Entschlossen legte sie beide Hände übereinander, drückte die Arme durch und stemmte sich mit ihrem ganzen Körpergewicht mehrmals auf seinen Rücken. Bei jeder Bewegung schoss ein Schwall Wasser aus seiner Lunge und beim dritten Mal hustete und würgte er schwach. Mit zitternden Händen half sie, ihn wieder umzudrehen.
Keuchend rang er nach Luft, währen sein Körper sich mit jedem Atemzug verkrampfte, und als er die Augen öffnete und sie ansah, hätte sie ihn vor Freude am liebsten geküsst. Stattdessen strich sie mit bebenden Händen die nassen Haare aus seinem Gesicht und sah ihn an.
„Da bist du ja wieder.“ Sie hatte eigentlich mehr zu sich selbst gesprochen und nicht erwartet, dass irgendwer ihr leises Flüstern gehört hätte.
Doch er presste seine Wange gegen ihre Hand und sah sie mit einem so brennenden Blick an, dass sie die Welt um sich herum für einen Augenblick vergaß.
Jemand legte eine Hand auf ihren Arm.
„Wir müssen den Kopf verbinden“, hörte sie eine Stimme hinter sich sagen. „Würden Sie bitte Platz machen.“

 

Kapitel zwei

Nachdem Diana eilig das Schiff verlassen hatte, stand sie noch einen Augenblick unentschlossen am Kai und der Wind riss ihr beinahe die Haube vom Kopf. Sie war als Letzte von Bord gegangen und gleich hinter ihr hatte man die Planken wieder hochgezogen. Nun stand sie direkt neben der Wuppe und hörte, wie der Wuppenmeister mit dem Kapitän über den Hafenzoll verhandelte, bevor die Fracht entladen werden konnte.

Auch im Hafen ihres Heimatortes hatte es zwei solche Entladehilfen gegeben und schon als Kind war sie von der Konstruktion aus einer Art Wippe mit einem Flaschenzug fasziniert gewesen. Sie hatte ihre Mutter immer wieder dazu gedrängt, mit ihr dabei zuzusehen, wie die schweren Säcke von den Schiffen gehoben wurden.
Ihre Mutter war tot und sowohl das gemütliche Caister on Sea als auch die große Hafenstadt Great Yarmouth waren Plätze aus der Vergangenheit. Ihre Zukunft lag in London, zumindest hoffte sie das.
Der graue Himmel schien immer tiefer herabzusinken, und als die ersten Tropfen fielen, riss sie sich endlich aus ihren Betrachtungen los. Sie konnte jetzt unmöglich hier stehen bleiben und die Wuppe anstarren, bis das Schiff entladen wurde, denn inzwischen wären ihr Gepäck und sie selbst völlig durchnässt.
Ihr Blick glitt noch einmal zur Reling des Schiffes zurück und sie versuchte zu erkennen, was dort geschah.
Ob der Baron diesen furchtbaren Anschlag unbeschadet überstehen würde?
Zumindest hatte er ihn überlebt, doch auch wenn er jetzt in der Obhut seines Arztes war, sorgte sie sich noch immer um ihn.
Er hatte ihr zuerst Angst eingejagt mit seiner riesigen, dunklen Erscheinung und seiner drohenden Stimme. Als sie sich später unterhalten hatten, war er allerdings viel freundlicher und äußerst höflich gewesen. Sein Interesse für da Vinci und seine Konstruktionen hatten nur den Anfang ihrer langen Diskussion ausgemacht. Sie waren später über den Schiffsbau, die Newcomen-Dampfmaschine und andere Erfindungen zur Verwendung von Wasserdampf bis zu den Viadukten der alten Römer gekommen, von denen sie beide ihre Vornamen hatten.
Fasziniert schüttelte sie den Kopf. Sie war wirklich schon lange niemandem mehr begegnet, der so vielseitige Kenntnisse hatte und mit dem sie sich derart lange unterhalten konnte, ohne sich zu langweilen. Tatsächlich hatte sie das Gefühl, noch Tage und Wochen mit ihm sprechen zu müssen, um auch nur annähernd alle Themen, die sie beide interessierten, zu streifen.
Ein bedauernder Seufzer schlich sich über ihre Lippen. Ziemlich sicher würden sie dazu keine Gelegenheit haben.
Jetzt musste sie sich endlich um ihr Gepäck kümmern und eine Kutsche finden, bevor alles nass würde.
Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf den Rücken eines schmalen, blonden Mannes, der ein schmutziges Gallengrün ausstrahlte. Sie meinte, ihren Schwager Richard zu erkennen, und hatte für einen Moment den Impuls, zu ihm hinüberzugehen und ihn zu begrüßen. Der ärgerliche Tonfall, der sich von Wort zu Wort steigerte, ließ sie jedoch innehalten, und als er sich wild gestikulierend mit einem Schiffsburschen herumstritt und daraufhin wutentbrannt wegstapfte, hoffte sie insgeheim, ihn verwechselt zu haben.
Wenig später stand sie vor dem Haus, in dem sie ihre Zeit in London verbringen würde, und starrte an der Fassade hoch. Obwohl es einen einladenden Eindruck machte, erschien es ihr jedoch unproportional groß und einschüchternd. Andererseits hatten die mehrstöckigen Häuser in London schon immer diesen Eindruck auf sie gemacht und es war keineswegs größer oder einschüchternder als die übrigen Gebäude in der Straße. Sie war eben eine Landpflanze, für die Great Yarmouth mit seinem riesigen Hafen und den palastartigen Bürgerhäusern bereits eine Besonderheit war.
Das Gefühl, dass sie nicht wirklich hierhergehörte, machte sich wieder in ihrem Brustkorb breit. Es war die Schwester ihres verstorbenen Mannes Jonas, die sie eingeladen hatte, nach London zu kommen und bei ihr zu wohnen. Früher schon hatte Catherine immer darauf gedrängt, dass Diana doch in London leben solle statt in dem kleinen Nest Caister on Sea an der Küste.
Doch sie fühlte sich auf dem Landgut wohl, das Jonas’ Eltern in seiner Kinderzeit häufig genutzt hatten und in dem sie selbst wohnte, seit sie Lady Derenham war. Es lag nur eine halbe Stunde entfernt von Great Yarmouth, wo ihre Eltern gewohnt hatten, und war ihr viele Jahre ein schönes Zuhause gewesen.
Natürlich war es lange nicht so groß und repräsentativ wie Sutton Manor und vor allem war es recht einsam, wenn man so ein Anwesen ohne Familie, nur mit ein paar Bediensteten bewohnte. Daher hatte Cat schon häufig versucht, Diana zu einem Umzug nach London zu bewegen, um sie in die feine Gesellschaft einzuführen, die ihr so wichtig war.
Cats Hochzeit mit Donald Henley, dem Earl Sutton, hatte ihren eigenen gesellschaftlichen Rang um einiges verbessert. Auch wenn Diana bezweifelte, dass es eine Liebesheirat gewesen war, schienen die beiden gut miteinander auszukommen und Cat genoss das gesellschaftliche Leben in der Stadt in vollen Zügen.
Zögerlich hob sie die Hand und betätigte den schweren Türklopfer. Dann wartete sie geduldig, bis endlich Schritte erklangen und die Tür zuerst nur halb geöffnet wurde.
Liston, der Butler des Earls, sah an ihr herunter, als ob er nicht sicher wäre, dass sie tatsächlich zur Familie gehörte. Ihn umgab ein überhebliches, beinahe ins Lila reichende Orchideenpink und er wollte sie augenscheinlich gar nicht hereinlassen, aber besann sich offenbar doch noch darauf, dass er von ihrer Ankunft unterrichtet worden war. Er ließ sie schließlich ein, nicht ohne noch einmal herablassend an seiner langen Nase entlang auf sie hinabzublicken, solange sie noch drei Stufen unter ihm stand. Kaum hatte sie die Treppe erklommen, hätte sie herabblicken können, denn Liston war deutlich kleiner als sie selbst.
Hastig trat er daraufhin von der Tür zurück und Diana musste ein wenig schmunzeln.
„Bitte treten Sie ein, ich werde Sie anmelden. Wenn Sie so freundlich wären, mir in das Gesellschaftszimmer zu folgen.“ Der Butler ging hocherhobenen Hauptes voraus und wies im Vorbeigehen einen Burschen an, sich um das Gepäck zu kümmern.
Diana stellte überrascht fest, dass der Gepäckbursche und auch zwei weitere Bedienstete, die durch die Halle eilten, einen dunkelgrauen Gehrock trugen wie der Butler. Auch das Familienwappen trugen sie alle auf der Brust. Es erinnerte Diana an die Uniformen des Militärs, auch wenn die Sache mit dem Wappen ihr befremdlich vorkam. Es wirkte, als würde es die Angestellten als Besitz kennzeichnen, wie das Türwappen auf einer Kutsche oder die Satteldecke eines Pferdes. So etwas hatte sie bisher noch nicht gesehen und sie fragte sich, ob das jetzt hier in der Stadt eine neue Mode war.
 Diana musste nicht lange warten, ehe Catherine mit rauschendem Rock hereinstürmte. Ihr energisches Kobaltviolett wehte ihr schon voraus und hüllte Diana bereits in eine Wolke von Aktivität, noch ehe ihre Freundin sie erreicht hatte.
„Diana, meine Liebe! Mein Gott, endlich bist du da. Bin ich froh, dich schließlich doch hierzuhaben. Ich habe schon die verschiedensten Festlichkeiten herausgesucht, die wir zusammen besuchen werden. Donalds kleine Schwester Elisabeth wird ebenfalls heute ankommen, um ihre dritte Ballsaison zu bestreiten. Hach, wir werden einen riesigen Spaß haben, alle zusammen.“ Catherine ergriff ihren Arm und zog sie mit sich. „Da deine Trauerzeit ja nun auch vorbei ist, wirst du dich jetzt in aller Ruhe nach einem neuen Ehemann umsehen können.“
Diana schluckte. Natürlich war ihr schon klar, woran Cat bei ihrer Einführung in die Londoner Gesellschaft gedacht hatte, aber dass sie schon bei der Begrüßung damit herausplatzte, ging ihr doch ein wenig zu schnell. Mit ihren 26 Jahren war sie ohnehin nicht mehr in dem Alter, übers Heiraten nachzudenken. Selbst die Gentlemen, die sich mit der Brautwahl Zeit ließen oder wie sie selbst verwitwet waren, sahen sich normalerweise nach jungen Mädchen um und nicht nach erwachsenen Frauen.
Sie selbst hatte sich auch noch nicht entschieden, ob sie überhaupt wieder heiraten wollte. Sie hatte sich überhaupt noch nicht entschieden, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte, da sie nun ganz auf sich gestellt war.
Nur, dass sie nicht mehr allein in der bedrückenden Stille des Landhauses bleiben konnte, nachdem alle Menschen, die sie geliebt hatte, nun tot waren, das war ihr nach all den Monaten klar geworden.
Daher hatte sie das Haus samt Inventar verkauft, sich von allen Nachbarn verabschiedet und einige Kisten mit Büchern und persönlichen Gegenständen zu Catherine vorausgeschickt und war dann nur mit drei Reisekisten voll Kleidern selbst nach London gekommen.
Sie war fest entschlossen gewesen, ihrem Leben eine völlig neue Richtung zu geben. Im Moment fühlte sie sich allerdings nur noch haltlos und unsicher – wie eine Nussschale auf dem Ozean.
Cat hatte allerdings die nächsten Tage schon fest verplant, so dass ihr für Melancholie keine Zeit bleiben würde.

* * *

Zwei Tage hatte er auf Anweisung seines Arztes im Bett verbracht, doch immer noch fühlte er sich schwach und in seinem Kopf hämmerte es bei jeder hastigen Bewegung. Heute hatte er sich zum ersten Mal aus dem Bett gequält und sich nach einer Runde durch das Haus in der Bibliothek einen Platz gesucht.
Auf die Papiere, die sich auf dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer stapelten, konnte er sich mit diesen Kopfschmerzen noch nicht konzentrieren. So musste er darauf vertrauen, dass sein Sekretär Mr. Lambert alles Wichtige regeln würde.
Seine Bibliothek war groß, gut bestückt und gut geordnet, denn darauf hatte er schon immer Wert gelegt. Eine Wand wurde ausschließlich von naturwissenschaftlichen Sachbüchern eingenommen, sonst hatte er sich hauptsächlich mit Literatur zu Physik und Technik ausgestattet.
Stets war sein ruheloser Geist damit beschäftigt, vom kleinsten Seilschäkel bis zum Schiffsrumpf alle Formen und Funktionen zu hinterfragen und die Konstruktion der Schiffe zu verbessern.
Für die Auftragsabwicklung und die Buchführung war hauptsächlich Mister Lambert zuständig. Diese Dinge waren natürlich mindestens ebenso wichtig, denn nur so konnte er genug Geld verdienen, um seine neuen Pläne und Ideen an den Schiffen umzusetzen.
Von seinem Vater hatte er nur eine relativ kleine Reederei geerbt, der es nie gelungen war, sich gegen die größere Konkurrenz wirklich durchzusetzen.
Seit sein Vater sich aus dem Geschäft zurückgezogen hatte, führte Mithras die Geschäfte völlig anders weiter. Obwohl der Krieg den Handel schwierig gestaltete, hatte seine Gesellschaft London Shipping and Trade genug verdient, um einige seiner Ideen und Verbesserungen an den Konstruktionen durchführen zu können. Es war ein Risiko, zu investieren, in einer Zeit, wo andere ihre Gelder zusammenhielten und eher darauf bedacht waren, bestehende Strukturen zu bewahren, statt an Expansion zu denken.
Natürlich konnte er nicht alle neuen Pläne gleich verwirklichen, aber nach und nach veränderte sich seine Flotte. So waren sie bald mit weniger Besatzung schneller gewesen, weniger reparaturanfällig und hatten mehr Fracht aufnehmen können als die Schiffe der Konkurrenz. Das hatte ihm wiederum Vorteile im Wettbewerb verschafft und eben auch Neider auf den Plan gerufen.
Aus den technischen Neuerungen machte er nie ein großes Geheimnis, aber die anderen und eher konservativen Schiffbauer wollten seinen Ideen nicht folgen und so blieben seine eigenen Schiffe die einzigen, in denen die veränderte Bauweise vollständig umgesetzt war.
Mithras fuhr mit dem Finger über das Leder des Einbands eines Werkes, das sich mit verschiedenen experimentellen Apparaturen zur mechanischen Kraftübertragung beschäftigte. Aber heute wollte er keine Sachbücher lesen, heute trug er diese seltsame Sehnsucht nach etwas anderem in seinem Herzen. Etwas, das seinem Leben mehr Sinn geben würde als die Verbesserung von technischen Formen und Funktionen.
Bis jetzt hatte er sich erfolgreich eingeredet, dass es in seinem Leben nichts Wichtigeres geben könnte als seine Arbeit. Trotzdem spürte er neuerdings eine seltsame Leere in sich selbst, von der er nicht wusste, wie er sie füllen sollte.
Etwas hatte sich verändert an dem Tag, an dem sein Herz aufgehört hatte zu schlagen. Aufgehört und dann doch wieder eingesetzt.
Er presste eine Faust gegen seine Brust, um das schmerzhafte Ziehen zu vertreiben, das sich dort festgesetzt hatte. Sein Arzt Doktor Morehill hatte ihm versichert, dass sein Herz allem Anschein nach völlig in Ordnung war. Was war es also, das dieses Gefühl verursachte?
Shakespeares Sonette lagen ungeöffnet auf dem Tisch, während er aus dem Fenster in den Park sah und seine Gedanken zu den Ereignissen von vorgestern zurückwanderten.
Das schmutzige Hafenwasser in seiner Lunge hatte ihm einen quälenden Husten beschert, der nur langsam besser wurde. Aber das war eine Kleinigkeit verglichen mit dem Wunder, dass er überhaupt noch lebte.
Die Schiffsburschen hatten ihm glaubhaft versichert, dass er bereits tot gewesen war, als sie ihn aus dem Wasser gezogen hatten. Was auch immer die Lady mit ihm gemacht hatte – es habe ihn wieder zum Leben erweckt, schworen sie einmütig.
Sein Butler erschien in der offenen Tür der Bibliothek und riss ihn damit aus seinen Erinnerungen.
„Mylord, Doktor Morehill.“
„Ja, bitte hier in die Bibliothek, Brandon“, gab er mit einem Nicken zurück und legte das Buch zur Seite.
„Mithras, du läufst schon im Haus herum. Das war ja zu erwarten, dass du den Anweisungen deines Arztes nicht folgst.“
Mithras holte tief Luft, um zu antworten, wurde wie zum Beweis aber sofort von einem heftigen Hustenanfall befallen.
Charles zog einen Stuhl vom Schachtisch heran und setzte sich ihm gegenüber ans Fenster, während Mithras darum kämpfte, den Husten zu unterdrücken.
„Ich kann nicht mehr untätig im Bett liegen. Es geht mir gut, mein Herz schlägt, mein Kopf arbeitet und der Husten wird ebenfalls irgendwann verschwinden.“
„Ja, das wird er. Die Sache mit dem Herz hat dir ja offensichtlich mehr zugesetzt, als du zugeben willst. Ich glaube die ganze Geschichte ja immer noch nicht. Matrosen sind abergläubisch und lieben Wundergeschichten, aber du bist der rationalste Mensch, den ich kenne. Dass sogar du das Märchen für bare Münze nimmst …“
Charles ließ sich das Vorgehen der Frau in allen Einzelheiten noch einmal beschreiben und schüttelte dann verwundert mit dem Kopf. „Nein, mein Lieber, du warst einfach bewusstlos. Das, was die Männer dir nachher erzählt haben, mag alles so passiert sein, aber davon würde ein Herz, das nicht mehr schlägt, die Arbeit nicht wieder aufnehmen. Es war vermutlich einfach panischer, weibischer Überschwang, der die Lady zu dem Geklopfe auf deiner Brust verleitet hat.“
Er kramte in seiner Tasche und zog schließlich ein kleines Blasinstrument hervor, allerdings eines, das Mithras noch nie gesehen hatte. Wollte sein Freund damit seine Nerven beruhigen?
„Schau, mit so einem Hörrohr kann man den Herzschlag viel besser abhören als mit dem Ohr auf der Brust. Und jetzt leg mal deinen Rock ab, damit ich mir deine Lunge anhören kann. Dieser Husten ist nicht zu unterschätzen.“
Mithras wurde langsam ärgerlich. „Du willst nur das Thema wechseln, weil du mir nicht glaubst. Du warst schließlich nicht da, also kannst du nicht wissen, wie es wirklich war. Außerdem ist Lady Derenham die Tochter eines Arztes und hat ihrem Vater häufig in der Praxis geholfen. Daher hat sie ebenfalls eine gewisse Vorstellung von den Vorgängen im Körper eines Menschen.“
Mithras wunderte sich selbst, dass ihm diese Angelegenheit so wichtig war. Es kam ihm vor, als würde Charles mit seinen Zweifeln Lady Derenham verunglimpfen, obwohl das natürlich Unsinn war.
„Du scheinst sie ja bereits recht gut zu kennen. Wenn du mich von dem Wahrheitsgehalt deiner wilden Geschichte überzeugen willst, sollte ich wohl selbst mit dieser erstaunlichen Lady sprechen“, gab sein Freund schließlich nach.
„Leider weiß ich nur ihren Namen und nicht, wo sie in London wohnt. Aber ich könnte Erkundigungen einholen lassen. Vielleicht bringt uns das weiter.“ Damit erhob er sich, um wie verlangt seinen Rock abzulegen und seine Lunge abhören zu lassen.
„Du willst sie auch wiedersehen, hab ich recht?“, fragte Charles mit erstaunt hochgezogenen Brauen, aber Mithras brummte nur und drehte ihm den Rücken zu.
„Nun fang schon an mit der Untersuchung.“
Eine erstaunliche Lady.
Das war in den letzten Tagen das Wort, welches ihm am häufigsten durch den Kopf spukte: erstaunlich. Vor allem erstaunte ihn ihre Wirkung auf seinen Seelenfrieden, damit hatte sein Freund ins Schwarze getroffen. Keine Stunde war vergangen, in der er sich nicht gewünscht hatte, Lady Derenham wiedersehen zu können und sich noch einmal so wunderbar angeregt und zugleich entspannt mit ihr zu unterhalten.
Er wusste, dass sein Geist in einem anderen Takt arbeitete als bei vielen anderen Menschen. Noch nie hatte er jemanden gefunden, der mit seinen Gedanken Schritt halten konnte und dem es wirklich gefiel, sich längere Zeit mit ihm zu unterhalten. Jede Konversation, die über das übliche Austauschen von Höflichkeiten hinausging, war zäh wie Teeröl und schon nach kurzer Zeit verabschiedeten sich seine Gesprächspartner mit fadenscheinigen Ausreden. Niemand fachsimpelte gern mit ihm über technische Dinge, über die Kunst da Vincis, den Erfindungsreichtum der alten Römer oder irgendetwas sonst. Niemand, bis auf Lady Derenham.
Bei der Unterhaltung in der Kabine des Kapitäns hatte er zum ersten Mal überhaupt das Gefühl, mit jemandem im gleichen Takt zu sein, sich in der gleichen Geschwindigkeit zu bewegen.
Mit einem Seufzer schloss er die Augen und erinnerte sich an ihr nasses Gesicht, als sie ihn so besorgt und zärtlich angesehen hatte. Sie hatte seinetwegen Tränen vergossen. Das war etwas, das ihn tief berührte.
Obwohl er noch mit ihr hatte sprechen wollen, hatte er Mühe gehabt, überhaupt zu atmen, und nicht ein Wort herausgebracht. Dann war sie plötzlich verschwunden gewesen und er hatte ihr noch nicht einmal gedankt. Seine einzige Chance würde in vier Tagen der Ball bei den Warwicks sein. So sehr er diese Anlässe gesellschaftlichen Trubels auch hasste, dieses Mal musste er sich überwinden.

* * *

Diana fuhr erschrocken auf, als Lady Grenville, bei der sie und Catherine heute zum Tee eingeladen waren, die Hand auf ihren Arm legte.
„Lady Derenham, kommen Sie zu uns zurück.“
Die ältere Dame mit dem blassen, beinahe weißen Fenchelgrün lächelte in ihre Richtung, und Diana war erleichtert, dass ihre Träumerei anscheinend nicht als unhöflich angesehen wurde.
Natürlich trug Lady Grenville eine schreiendgelbe Robe Anglaise, deren Farbe ihre wässrighellen Augen stumpf erscheinen ließ und die vielen Lachfältchen unvorteilhaft betonte. Die aufgestickten Blumen und mehrlagigen Spitzenrüschen am Ausschnitt und an den Ärmeln hätten besser zu einem Mädchen gepasst. Aber natürlich trug sie das, was die neueste Mode in London vorgab, und nicht etwas weniger Gerüschtes in Fenchelgrün, was wunderbar zu ihr gepasst hätte.
Überhaupt fand Diana, dass die meisten Menschen gut daran täten, ihre Kleidung passend zur Farbe ihrer Persönlichkeit zu wählen. Aber das taten sie nicht – natürlich nicht –, denn sie wussten nichts davon.
Wieder und wieder hatte sie die Versuchung unterdrückt, mit jemandem über die Farbe der Seele zu sprechen. Nur ihr Vater hatte sie in dieser Hinsicht verstanden, und da er nun nicht mehr da war, musste sie dieses kleine Geheimnis eben für sich behalten.
Ihr Blick fiel auf Catherine in ihrem aufwändig gearbeiteten und mit einem riesigen Panier aufgespannten lavendelfarbenen Kleid. Gut, so riesig war der Reifrock in Relation zur herrschenden Mode nicht, aber zwei Kleinkinder hätten sich bequem darunter verstecken und in Ruhe mit ihren Puppen spielen können. Diana musste grinsen bei diesem Gedanken, und um das zu verbergen, nahm sie hastig einen Schluck Tee.
Außerdem war Lavendel auch nicht die beste Wahl. Catherines Kobaltviolett war dunkler und kräftiger, aber immerhin schien sie ein gewisses Gefühl dafür zu haben, welche Farbe zu ihr passte.
Diana unterdrückte mühsam ein Kichern, als sie sich den Butler Liston in einer orchideenpinken Butleruniform vorstellte.
Nein, manche Seelenfarben eigneten sich wirklich nicht als Kleidung.
„Lady Derenham, ich fragte Sie gerade nach Ihrer Reise. Ich selbst bin noch nie mit dem Schiff gefahren. Erzählen Sie mir davon.“
Lady Grenvilles Frage riss Diana aus ihren Betrachtungen. Sie holte Luft und wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an ihre Gastgeberin. „Verzeihen Sie mir meine Unaufmerksamkeit, ich war ganz in Gedanken. Natürlich ist es wesentlich angenehmer, auf einem Schiff zu reisen, als mehrere Tage in einer Kutsche zu verbringen. Man kann sich jederzeit frei bewegen und ist nicht auf Pausen angewiesen, um sich die Beine zu vertreten. Deshalb habe ich diesen Weg gewählt, um von Great Yarmouth hier nach London zu kommen.“
Lady Grenville nickte ihr aufmunternd zu und schien aufrichtiges Interesse zu zeigen.
„Über Land wäre es doch ein beschwerlicher Weg von mehreren Tagen gewesen. Mit dem Schiff ist man deutlich schneller unterwegs. Die Fahrt selbst war allerdings wenig ereignisreich.“
Ein kleiner Stich durchfuhr sie bei dieser Lüge. Wenn sie etwas wirklich abgrundtief verabscheute, dann war es Unaufrichtigkeit. Aber sie hatte ja versprochen, nichts von alldem zu erzählen, was kurz vor der Ankunft und dann im Hafen geschehen war. So war „wenig ereignisreich“ eine heftige Untertreibung der Vorkommnisse.
Ihre Gedanken wanderten zu dem großen, dunklen Mann zurück, mit dem sie sich auf Anhieb so überraschend gut verstanden hatte.
Catherine hatte sie in den letzten Tagen mit schier unermüdlicher Energie von Morgenbesuch zu Teenachmittag und von Abendessen zu Tanzveranstaltung geschleppt. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen fühlte sie sich immer unsicherer und haltloser zwischen all den Menschen, die sie neu kennenlernte und meist gleich wieder vergaß.
Lord Ampton wollte dagegen so gar nicht aus ihrem Kopf verschwinden und mehrmals am Tag ertappte sie sich dabei, dass sie über ihn nachdachte.
Wie es wohl seiner Verletzung inzwischen ging? Hatte seine Lunge möglicherweise vom schmutzigen Wasser einen Schaden davongetragen? Wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn sie sich an seine breite Schulter lehnte?
Über diesen Gedanken erschrak sie. Das war etwas völlig Neues, dass sie sich danach sehnte, sich bei irgendwem anzulehnen.
Obwohl der Lord zuerst bedrohlich gewirkt hatte, waren ihr seine Größe und seine Präsenz wie ein fester Halt erschienen und seine breite Statur schien sie förmlich eingeladen zu haben, sich vertrauensvoll anzulehnen.
Bereits bei ihrem ersten Zusammentreffen in der Kajüte waren ihr einige ungewöhnliche Eigenheiten aufgefallen. Er hatte seltsam verschlossen und in sich zurückgezogen gewirkt, schien sich hinter einem unbeteiligten Gesichtsausdruck zu verstecken.
Dass der Vorfall mit dem Anker ihn keineswegs kalt gelassen hatte, hatte sie an winzigen Änderungen seiner Körperhaltung und seiner Atmung bemerkt – und natürlich an dem nervösen Spiel mit seiner Uhrkette.
Aber als sie sich über die technischen Details der Maschinen auf den Zeichnungen unterhalten hatten, war er ein anderer Mensch gewesen, gelöst und offen. Am Ende ihres langen Gesprächs hatte sie den Eindruck gewonnen, tatsächlich den Mann hinter der abweisenden Fassade gesehen zu haben, und dabei festgestellt, dass sie ihn ausgesprochen gern mochte.
Es kostete sie einige Anstrengung, sich von diesen fruchtlosen Gedanken loszureißen, aber sie musste den großen Baron endlich aus ihrem Kopf streichen. Ganz gleich, wie sehr sie seine breiten Schultern mochte oder seine spannenden Ideen und Konstruktionen bewunderte.
Sie würde ihn nicht wiedersehen.
Auch wenn ein kleines hoffnungsvolles Eckchen in ihrem Herzen den morgigen Ball als Chance betrachten wollte. Er hatte deutlich gemacht, dass er an solchen Veranstaltungen nicht teilnahm, also sollte sie diesen unmöglichen Wunsch schnell wieder vergessen.
Mit einem verbindlichen Lächeln wandte sie sich wieder der Konversation mit ihrer Gastgeberin zu und fragte sich, wie viel sie mit ihrer Tagträumerei schon wieder von dem Gespräch verpasst hatte. Kurz folgte sie der Unterhaltung über die Bälle der Saison und den neuesten Klatsch über diese Lady und jenen Lord. Bald driftete ihre Aufmerksamkeit jedoch wieder ab und sie sehnte sich zurück nach der Arbeit in der Praxis ihres Vaters.
Auch wenn sie für ihren Lebensunterhalt eigentlich nicht arbeiten musste, hatte sie es stets als sehr befriedigend empfunden, ihn bei seinen Patientenbesuchen zu unterstützen. Hin und wieder war sie sogar allein zu einem Verbandswechsel oder einer Nachkontrolle gefahren, wenn er sehr beschäftigt gewesen war.
Mit einem leisen Seufzen stellte sie fest, dass diese Betätigung doch wirklich erfüllender gewesen war als ein Nachmittagstee. Es machte einen Unterschied im Leben eines Menschen, ob er eine gute Behandlung bekam. Aber, ob sie nun hier saß und Interesse an der aktuellen Hutmode vorgab oder nicht – es änderte nicht das Geringste. Vergeudete Zeit, nichts weiter …
„Lady Derenham, Sie scheinen heute sehr zerstreut“, meldete sich ihre Gastgeberin wieder. Mit einem verbindlichen Lächeln wandte sie sich der Dame zu und hoffte, dass sie es nicht als persönlichen Affront werten würde, dass sie der Unterhaltung schon wieder nicht gefolgt war.
Da sie nicht wirklich erklären wollte, womit sich ihre wandernden Gedanken so intensiv beschäftigten, musste wieder eine kleine Unwahrheit herhalten. „Es tut mir wirklich leid, Lady Grenville. Ich fürchte, ich habe mich noch nicht gut hier in London eingelebt und bin in meinen Gedanken noch zu oft in der Vergangenheit gefangen.“
„Aber meine Liebe, dafür müssen Sie sich bestimmt nicht entschuldigen. Immerhin hatten Sie einige sehr schwere Verluste zu verarbeiten und haben jetzt alles hinter sich lassen müssen, um hier in London ganz neu anzufangen. Eigentlich bewundere ich Sie für Ihre Tatkraft. Nehmen Sie sich ruhig erst einmal ein wenig Zeit für sich selbst, das steht Ihnen sicherlich zu.“
Dankbar für die freundlichen Worte nickte Diana Lady Grenville zu. Sie schien es ehrlich zu meinen, aber insgeheim wusste Diana, dass es Höflichkeit war, die die Gastgeberin zu dieser Antwort bewegt hatte.
Zeit für sich hatte sie im letzten Jahr wirklich ausreichend gehabt. Wirklich absolut ausreichend für ihr restliches Leben.
Aber was würde sie nun tun, für was sollte sie hier in London ihre Zeit aufwenden?
Sie wartete sehnsüchtig auf das Ende des Nachmittagstees, denn dieses halbwahre oberflächliche Geplapper, das als freundlicher Smalltalk betrachtet wurde, gehörte nicht zu den Dingen, mit denen sie ihre Tage verbringen wollte. Abgesehen vom neuesten Klatsch wurden eigentlich nur belanglose Höflichkeiten ausgetauscht, von denen kaum etwas ehrlich gemeint war.
Wieder um ein freundliches Lächeln bemüht, das ihr inzwischen irgendwie klebrig vorkam, wandte sie sich ihrer Sitznachbarin zu und gab vor, sich für das Gesagte zu interessieren, bis Catherine sich endlich zum Aufbruch bereit machte.

 

Kapitel drei

Mithras stand an eine der aufwändig verzierten Säulen gelehnt in einer stillen Ecke des Saals und hielt sich an seinem Glas fest. Obwohl dieser Ballsaal so groß war, dass vielleicht sogar eines seiner kleineren Frachtschiffe hineingepasst hätte, gab es keine Ecke, die im Dunkeln lag. Alles war hell beleuchtet mit einer unglaublichen Anzahl an Kerzen in den großen Lüstern, die von der Decke herabhingen, und in den vielarmigen Lampenhaltern an den Wänden. Ein Paar hohe Doppelflügeltüren führten in den Ballsaal und durch beide strömten unaufhörlich Leute.
Es war eine recht informelle Veranstaltung, daher wurden die Ankömmlinge unmittelbar vor dem Eingang vom Gastgeber und seiner Ehegattin begrüßt und konnten sich danach ungehindert im gesamten Haus bewegen. Obwohl es noch früh am Abend war, füllte sich der Raum bereits beängstigend und die Tanzfläche würde sicherlich zum Bersten voll sein, wenn die Kapelle später aufspielte.
Einige der Herren zogen sich bereits in die beiden angrenzenden Spielzimmer zurück und gewiss hatten auch einige Damen zunächst im Gesellschaftsraum Platz genommen, um später in das Gedränge des großen Saales vorzustoßen. Nur hier hinten, in der Nähe des Ausgangs zum Garten, war es noch einigermaßen leer und man hätte ein ruhiges Gespräch führen können, ohne die Stimme zu erheben.
Sofern denn jemand da gewesen wäre, um sich mit ihm zu unterhalten.
Einige seiner Bekannten und Geschäftspartner hatten kurz mit ihm gesprochen, nur der hagere, unsympathische Lord Crutchley hatte mit abschätziger Miene dabeigestanden und ihn spüren lassen, wie wenig er von ihm hielt.
Wie immer hatte Mithras wenig für den Austausch oberflächlicher Belanglosigkeiten übrig. Natürlich hatte er sich mit den Jahren ein gewisses Repertoire an seichten Höflichkeiten zugelegt und zumeist schaffte er es auch, diese zu passender Gelegenheit anzubringen, aber er fühlte sich dabei stets wie ein dressierter Hund, da er nicht wirklich empfand, was er sagte. Insgesamt wussten die Leute der feinen Gesellschaft nur wenig mit ihm anzufangen, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Einige sahen ihn auch nach all den Jahren immer noch mit Misstrauen an und er war sicher, dass sie hinter seinem Rücken über den Tod seiner Verlobten tuschelten.
Er interessierte sich auch weder für Pferdewetten noch für die abstrusen Wetten bei White’s und in anderen Herrenclubs. Auch das Kartenspiel in den angrenzenden Räumen des Ballsaals übte keinerlei Reiz auf ihn aus und die Damen der Gesellschaft wollten mit ihm nicht gesehen werden, geschweige denn tanzen.
Er ließ den Blick über die aufwändig gekleideten und herausgeputzten Menschen gleiten und seine Augen blieben an einem Mann hängen, der wie er selbst ganz allein dastand. In einer Hand das Glas, in der anderen seinen langen Stock lehnte er mit der Schulter an einer Säule und schien mit den Gedanken weit weg zu sein.
Mithras war seit der Schulzeit in Eton mit Nikolas befreundet, hatte ihn aber in letzter Zeit selten getroffen. Mit einem Lächeln ging er auf Nik zu, der sich zu ihm umdrehte, noch bevor er ihn erreicht hatte.
„Mylord Nikolas Melliot, es ist mir ein Vergnügen“, sprach Mithras ihn an.
Sein Freund streckte erst vorsichtig eine Hand in seine Richtung, trat dann einen Schritt nach vorn, um ihn herzlich zu umarmen. „Mithras, alter Hund, hör mir nur auf mit ‚Mylord‘, sonst muss ich dich noch Baron Ampton nennen. Das kommt ja gar nicht in Frage. Was machst du auf einem Ball, ich dachte, du tanzt genauso wenig wie ich?“
Mithras erwiderte die unkonventionelle Begrüßung und klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Nein, du hast recht, zum Tanzen bin ich nicht hergekommen. Aber erzähl mir von dir. Wie kommst du zurecht? Du siehst gut aus.“
Nikolas lachte, aber es klang etwas gezwungen. „Leider kann ich das Kompliment nicht zurückgeben, aber du hörst dich zumindest gut an. Mit dem Zurechtkommen wird es so langsam besser. Ich werde mich sicher nie an meine Blindheit gewöhnen können, aber mit der Zeit lerne ich, damit zu leben.“ Er holte tief Luft und es hörte sich beinahe wie ein Seufzer an. „Es bleibt mir ja nicht wirklich eine Wahl.“
Mithras nickte ganz automatisch, obwohl ihm klar war, dass Nikolas das nicht sehen konnte.
Vor über zwei Jahren war er in einen brennenden Stall gelaufen, um sein Pferd zu retten. Ein glühender Balken war ihm vor das Gesicht geschlagen und obwohl äußerlich nur wenige Narben zurückgeblieben waren, hatte die Hitze seine Augen unheilbar geschädigt.
„Ich bin überrascht, dass du mich so schnell erkannt hast. Was ist dein Trick?“
„Ach, das ist kein Trick. Es ist deine Art zu laufen – das Geräusch deiner Schritte. Und die Tatsache, dass du im Gegensatz zu den anderen nicht nach diesem modernen französischen Duftwasser riechst, und natürlich deine Stimme.“
Mithras wollte noch etwas antworten, doch Lord Boundfield, Niks Vater, erschien in dem Augenblick neben ihm. Steif grüßte er Mithras, dann wandte er sich an seinen Sohn.
„Nikolas, ich möchte dir jemanden vorstellen, würdest du bitte mitkommen.“
Nik verzog das Gesicht und wandte sich noch einmal an Mithras. „Wir müssen uns bald mal wieder bei White’s treffen und in Ruhe reden. Du bist doch noch Mitglied, oder?“
„Ja, bin ich.“ Mithras wollte noch weitersprechen, aber Lord Boundfield hatte seinen Sohn bereits in die Menge gezogen.
Er wurde das Gefühl nicht los, dass Nikolas’ Vater seinem Sohn niemand Besonderen vorstellen, sondern ihn einfach nur von Mithras’ schlechtem Einfluss wegschaffen wollte.
Mit einem Schulterzucken wandte er sich ab und ging wieder in den hinteren Teil des Ballsaales. Die Kapelle begann zu spielen und eine erstaunlich lange Reihe stellte sich auf der Tanzfläche zu einem Kontratanz auf.
Dass Nik nicht tanzte, war seiner Blindheit geschuldet. Mithras selbst hatte andere Gründe dafür, dass er nicht tanzte.
Schon nach seiner Schulzeit in Eton, bei seinen ersten Auftritten in der Londoner Gesellschaft hatten die jungen Mädchen Abstand gehalten. Anfangs hatte er immer mal wieder versucht, eine Dame zum Tanzen aufzufordern, aber nachdem er sich Dutzende der absurdesten Ausreden angehört hatte, musste er einsehen, dass es einfach keinen Zweck hatte.
Es war nicht nur sein Versagen im Bereich höflicher Konversation, auch sein Äußeres hatte die jungen Ladys schon immer davon abgehalten, sich in seiner Nähe wohlzufühlen. Er war einfach zu groß und zu breit, sein Gesicht zu kantig und seine Ausstrahlung zu bedrohlich.
Lady Edgerton hatte als Erste überhaupt gewagt, mit ihm zu tanzen. Das war in seinem zweiten Jahr in der Londoner Gesellschaft gewesen. Sie war ihm schon vorher aufgefallen, da sie stets den Mittelpunkt einer Traube von Mädchen gebildet hatte und sich durch ihre ausgeprägten weiblichen Rundungen und ihre auffallenden Kleider zugleich von ihnen abgesetzt hatte.
Sie waren einander bereits auf dem vorherigen Ball vorgestellt worden und schon da hatte sie ihn mehrmals über die Tanzfläche hin angelächelt. Zuerst hatte er gar nicht glauben können, dass all diese Freundlichkeit tatsächlich ihm gegolten hatte.
Dann hatte sie plötzlich neben ihm gestanden und ihn wieder mit einem koketten Lächeln und einem auffordernden Augenaufschlag angesehen und er hatte sich tatsächlich ein Herz gefasst und sie um einen Tanz gebeten. Während des Contredanse hatte sie jedes Mal gekichert, wenn ihre Hände sich berührt hatten, aber als die Musik verklungen war, war sie so schnell verschwunden, dass er sich noch nicht einmal für den Tanz hatte bedanken können. Später am Abend hatte er sie noch mit ihren Freundinnen zusammenstehen und kichernd herüberschauen gesehen. Als er angesetzt hatte, hinüberzugehen, war sie jedoch verschwunden wie der Blitz.
Sie hatte nie wieder mit ihm getanzt, aber ab und an hatte eine ihrer Freundinnen ihm einladend zugenickt und dann seine Aufforderung akzeptiert. Steif und mit abgewandtem Blick waren sie dann umeinander herumgestakst und kaum waren die letzten Töne verklungen, hatte er wieder allein dagestanden.
Erst als sein Freund Nikolas eine entsprechende Bemerkung gemacht hatte, hatte er begriffen, dass es sich unter den Debütantinnen um eine skurrile Art von Mutprobe gehandelt hatte, mit ihm zu tanzen.
Nachdem allerdings die Gesellschaft beschlossen hatte, ihn für Karolines Tod verantwortlich zu machen, war er sogar für diese Art des Spaßes zu gefährlich.
So stand er jetzt also gelangweilt am Rande der Menge und fragte sich, ob Lady Diana Derenham tatsächlich noch kommen würde. Dadurch, dass er fast alle Anwesenden deutlich überragte, hatte er trotz der Menge der Leute noch eine gute Übersicht.
Er spürte, wie er gemustert wurde. Aber wenn er zufällig irgendjemandes Blick kreuzte, sah derjenige hastig weg und tat, als hätte er ihn nicht bemerkt. Einige Damen begannen bereits zu tuscheln und dabei immer wieder verstohlen herüberzusehen, und Mithras fragte sich, warum er überhaupt hergekommen war und warum er sich diesem peinlichen Schauspiel aussetzte, nachdem er das so lange erfolgreich vermieden hatte.
Als er wieder einmal den Blick von seinem Glas hob und scheinbar desinteressiert über die Menge streifen ließ, sah er Lady Derenham in einer kleinen Gruppe von Leuten, die sich lebhaft unterhielten.
Das dunkelblaue Ballkleid mit den hellen Ärmelaufschlägen und der silbernen Stickerei ließ ihre zart gebräunte Haut leuchten. Die hellen Locken, die auf dem Schiff zum größten Teil unter ihrer Haube verborgen gewesen waren, fielen an diesem Abend von einer eleganten Flechtfrisur in schmalen Strähnen bis in ihren Nacken.
Er musste kurz die Luft anhalten und hoffte, niemand hätte das leise Seufzen gehört, das ihm bei diesem erfreulichen Anblick durch die Lippen geschlüpft war.
Unmöglich konnte er zu ihr hinübergehen und sich ungebeten in die lockere Unterhaltung ihrer Freunde einmischen. Am besten wäre wohl, er würde einfach hier stehen bleiben und sie von Ferne bewundern. Vielleicht ergab sich später eine Gelegenheit, sie zu begrüßen, ohne allzu sehr aufzufallen.
Er bemerkte, dass sie nicht wirklich etwas zur Unterhaltung beitrug und nur ab und an mit einem verbindlichen Lächeln oder einem kurzen Nicken Interesse vorgab. Zwischendurch ließ sie ihren Blick durch den Saal schweifen, und als sie in seine Richtung sah, erhellte ein Strahlen ihre Züge.
Er drehte sich um, nur um festzustellen, dass niemand in seiner Nähe stand, dem dieses warme Lächeln gelten könnte – außer ihm selbst.
Mit einer kurzen Entschuldigung löste sie sich aus der Gruppe und wagte sich in seine Richtung zu bewegen. Sprachlos vor Verwunderung stand er schließlich am Pfeiler, während sie mit anmutigen Schritten auf ihn zukam.

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