Der richtige Earl für die Lady
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Taschenbuch Der richtige Earl

Zwei verwundete Herzen – ein gefährlicher Gegner
Mart, Earl of Tremblay, verkehrt sowohl in Londons Adelskreisen als auch unter Kriminellen und in den Armenvierteln. Mithilfe mehrerer Namen und wirkungsvoller Verkleidungen bleibt der Spion Seiner Majestät unerkannt. Als Mart von einem Anschlag auf den Prinzen erfährt, ist es fast zu spät. Im Alleingang rettet er das Kind, wird aber selbst gefangen genommen. Endlich kennt Mart den Kopf der Verräter, die den König stürzen wollen. Das Wissen wird ihm jedoch nichts mehr nützen, denn ihn erwartet ein grausamer Tod.
Lady Britannia trägt stets ein Lächeln auf den Lippen, obwohl sie mit großen Schwierigkeiten kämpft. Ihr Vater leidet an Demenz und die Gläubiger geben sich die Klinke in die Hand. Britannias Bruder kehrt nach langer Zeit vom Kontinent zurück, aber statt der erhofften Hilfe plant er eine Ehe für sie und die Irrenanstalt für ihren Vater. Wütend und ratlos wandert sie abends durch die Straßen Londons, als sie Stimmen aus einem unbewohnten Haus vernimmt. Jemand wird dort verhört und soll getötet werden. Es gilt, schnell zu handeln, und Lady Britannia ist die Einzige, die dem Unbekannten zur Flucht verhelfen könnte.

 

Leseprobe von Der richtige Earl für die Lady

Kapitel 1

Buckingham House, London
im Jahre 1767
Mart stand vor der Rückseite der Residenz der Königin. Nicht ein einziger Wachmann war zu sehen. Weder die königliche Garde noch die Wachleute des Palastes hielten ihn davon ab, sich dem Gebäude zu nähern.
Es blieb keine Zeit, sich über diesen Umstand zu wundern, und eilig hangelte er sich am wilden Wein nach oben. Er hoffte, dass die Ranken ihn tragen würden, auch wenn er nicht besonders vorsichtig sein konnte. Oben angekommen sah er, wie der vierjährige Prinz sich neben der Zimmertür an die Wand presste und einen vollkommen schwarz gekleideten Eindringling mit großen Augen anstarrte.
Mart sprang den Mann von hinten an und schlug ihn mit einem gezielten Fausthieb nieder, dann schnappte er sich den kleinen Kronprinzen und stürmte mit ihm im Arm aus dem Zimmer hinaus. Der Junge schrie vor Überraschung und Angst auf und strampelte wild.
„Hoheit, ich werde Euch beschützen, habt keine Angst. Bei mir seid Ihr sicher“, presste Mart hervor, während er mit Prinz George im Arm den Flur entlang rannte. Er wusste, dass dies ein sehr gewagtes Versprechen war, aber in dem Augenblick musste er das Kind irgendwie beruhigen, damit es aufhörte, zu zappeln.
„Jawohl, Sir“, flüsterte der Junge, drückte sein Gesicht an Marts Wange und schlang die Arme um seinen Hals.
Er hatte nicht erwartet, dass ihm der Kleine so bedingungslos vertrauen würde, aber die Art, wie er sich an ihn presste, erinnerte ihn sofort an seine Jugendzeit im Waisenheim.
Viel zu oft hatte er die kleineren Kinder vor den Schlägen des Heimvorstehers beschützen müssen, und in ihrer Angst hatten sie sich genauso an ihm festgeklammert, wie es der Prinz jetzt tat. Bei allen Unterschieden war Angst für jeden gleich.
Drei Attentäter umzingelten Mart kurz vor der Treppe. Unter dem Fausthieb eines der Attentäter konnte er sich wegducken. Er packte den Mann mit einer Hand und stieß ihn in Richtung Treppe. Schnell stellte er den Knaben auf den Boden, um die Arme frei zu haben. Noch ehe er einen Schritt machen konnte, klammerte sich das Kind an Marts Beinen fest.
Von der Seite traf eine Faust in seine Rippen, und er krachte gegen das Treppengeländer. Mart duckte sich und wich damit dem nächsten Schlag aus. Der Junge presste sich weiter an ihn, während ein harter Stoß von hinten Mart wieder gegen das Geländer schleuderte.
Er geriet ins Taumeln, griff ins Leere, fiel nach vorne.
Mart riss den Prinzen in seine Arme, um ihn vor dem Aufprall zu schützen, dann stürzten sie gemeinsam die Stufen hinunter.
Unten angekommen versuchte er sofort, sich aufzurichten, und sah sich hektisch um.
Der Mann, der ihn zuerst angegriffen hatte, war ebenfalls die Treppe hinabgestürzt. Er lag wenige Fuß entfernt auf dem polierten Marmorboden und bewegte sich nicht. Seine beiden Komplizen rannten allerdings schon zu ihm hinunter.
Mart war nach dem Sturz nicht länger in der Lage, den Prinzen zu beschützen. Er konnte nicht einmal mehr aufstehen, geschweige denn mit dem Kind weiter fliehen. Die beiden Yeomen of the Guard, die Leibwache, die an der Vordertür postiert war, stürmte Gott sei Dank endlich ins Haus. Mart drehte das verweinte Gesicht des kleinen Kronprinzen zu sich, sodass er ihn ansehen musste.
„Lauft zu den Yeomen, Hoheit“, sagte er streng. „Schnell!“ Dann stellte er den Jungen auf seine Beine und schob ihn in die entsprechende Richtung.
„Beschützt den Prinzen!“, brüllte er den Männern zu, während er vergeblich versuchte, auf die Füße zu kommen.
Das Kind rannte los, und Mart folgte ihm mit seinem Blick. Erleichtert sah er, dass der Junge von den Wachen sofort in die Mitte genommen und weggebracht wurde. Im nächsten Moment hörte er einen derben französischen Fluch hinter sich und spürte einen Schlag auf den Kopf. Alles wurde dunkel.
Mit zusammengekniffenen Augen sah Mart sich um. Es war finster, nur das schwache Leuchten des Mondes durch ein halb verbarrikadiertes Fenster ließ ihn seine Umgebung erahnen. Hastig blinzelte er, als ein weiterer Tropfen Blut aus seiner aufgeplatzten Braue rann. Das Auge darunter war zugeschwollen, sein Kopf brummte und irgendwo hinten im Nacken lief ebenfalls ein Rinnsal in seinen Kragen. Ihm war eiskalt, sein ganzer Körper schmerzte, und obwohl er nur flach atmete, stach jeder Zug in seinen Brustkorb wie ein Dolch. Er war sich sicher, dass mindestens eine Rippe gebrochen war. Nicht nur seine Hände und Füße waren gefesselt, auch seine Unterschenkel waren an die Beine des Schemels gebunden, auf dem er hockte, und ein dicker Knebel steckte in seinem Mund.
Er wusste nicht genau, wie lange er bereits hier war, aber es mussten gut eineinhalb Tage sein. Der Durst machte ihm inzwischen am meisten zu schaffen, und er hatte das Gefühl, schon nicht mehr klar denken zu können. Lange würden Schmerz und Wassermangel ihn allerdings nicht mehr quälen, denn sein Leben würde mit Sicherheit bald ein Ende finden.
Wichtig war, dass er die Entführung des Kronprinzen verhindert hatte. Er war spät vor der Gefahr gewarnt worden. Solch ein Unterfangen musste von langer Hand geplant gewesen sein, und es war unabdingbar, dass sie herausfinden mussten, warum ihr Netzwerk an Informanten derart versagt hatte. Dennoch hatte er es geschafft, den vierjährigen Prinz George zu beschützen. Der König selbst war nicht in Buckingham House gewesen, was den Schutz der königlichen Familie erleichtert hatte. Natürlich hätte er niemals allein und ohne Unterstützung eingreifen dürfen. Das war es, was ihn schlussendlich in diese aussichtslose Lage gebracht hatte.
Mart war sich bewusst, dass er gegen jede Vorschrift gehandelt hatte, als er ohne Verstärkung an der Rückseite des Gebäudes hochgeklettert war. Trotzdem würde er wieder genauso handeln, wenn es die Umstände erforderten. Entscheidungen in einer Notlage, von denen das Leben eines Menschen abhing, traf man aus dem Bauch heraus. Das hatte nichts mit Leichtfertigkeit zu tun, sondern mit Instinkt und Erfahrung.
Nun brachte dieser Alleingang allerdings einen ganzen Rattenschwanz neuer Probleme. Der Kronprinz war der Einzige, der ihn aus der Nähe gesehen hatte, aber das Kind kannte nicht seinen Namen. Bei den Wachen im Haus hatte Mart kein bekanntes Gesicht gesehen, und es war wenig wahrscheinlich, dass sich einer der Männer an ihn erinnern würde. Niemand wusste, dass er im Buckingham House gewesen war, und daher würde ihn auch so bald niemand vermissen. Erst wenn er einige Tage lang nicht in seinem Office erschiene, würden seine Männer sich Gedanken über seinen Verbleib machen. Wenn sie überhaupt eine Chance hätten, ihn zu finden, würde es sicher zu spät sein.
Er bedauerte, dass sein Leben nun hier endete und dass er keine Gelegenheit hatte, sich von seinen Großeltern oder den wenigen Freunden zu verabschieden, die ihm lieb waren. Andererseits hatte er immer gewusst, dass er bei einem Einsatz umkommen würde, und war froh, dass er immerhin nicht umsonst starb. Die Entführung war verhindert worden, dessen war er sicher. Er würde keine eigene Familie zurücklassen, keine Ehefrau und keine Kinder, die um ihn trauern würden. So einsam und leer sein Leben oft gewesen war, so tröstete es ihn in diesem Moment, schmerzte jedoch zugleich, dass ihn kaum ein Mensch vermissen würde.
Schritte rissen ihn aus seinen trüben Gedanken und Sekunden später wurde die Tür aufgerissen. Das helle Licht mehrerer Lampen blendete ihn, und er kniff das unverletzte Auge zusammen. Vier Kerle stürmten in den Raum, und als Mart wieder etwas erkennen konnte, sah er sich hastig um. Er erkannte gepflegten Parkettboden, einen kalten Kamin und mehrere hohe Fenster an zwei Wänden. Es handelte sich also um ein Eckzimmer in dem Gebäude, analysierte er, obwohl sich seine Gedanken wie durch einen zähen Morast kämpften. Der Raum wirkte, als wäre er in einem ausgeräumten Zimmer in einem verlassenen Herrschaftshaus. Erst vor wenigen Stunden hatten sie ihn hierhergebracht. Zuvor war er immer wieder von einem Haus zum nächsten transportiert worden, als wären die Attentäter immer noch auf der Flucht.
Die vier Männer waren alle in die gleichen dunkelgrauen Umhänge gekleidet, trugen modische Dreispitze, Handschuhe und elegante Schuhe. Kurz fragte er sich, warum sie alle gekleidet waren, als wollten sie ausgehen.
Die Eiseskälte um ihn gab ihm allerdings sofort die Antwort. Sein eigener Umhang lag neben ihm auf dem Boden und sein Dreispitz war sicher schon im Zimmer des Kronprinzen verlorengegangen. Schon seit er aufgewacht war, zitterte er am ganzen Körper, aber er musste das ignorieren. Er hob den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die vier Männer.
Wenn man nur oberflächlich ihre Erscheinung betrachtete, hätten es ebenso gut seine eigenen Leute sein können, die ihrer geheimen Tätigkeit für die Krone nachgingen, jedoch sprachen diese hier untereinander Französisch. Sie wirkten wie eine Gruppe Adeliger, die sich inkognito auf ihrer Tour durch die einschlägigen Etablissements der Stadt befanden. Allerdings ging eine Ausstrahlung von Wut und Gewalt von ihnen aus, insbesondere von dem vorderen Mann, der nun auf ihn zutrat.
„Du jetzt wirst sagen, warum du gewesen im Zimmer des Prinzen. Wir haben inzwischen herausgefunden, wer bist du, bâtard. Aber jetzt du wirst sagen, wer war dein Informant, rapidement.“ Der Mann mit dem schweren französischen Akzent war aus Marts sitzender Position betrachtet der kleinste der Gruppe. Er trat einen Schritt auf Mart zu und riss das Seil fort, das den Knebel in seinem Mund gehalten hatte.
Mart starrte den schmalen, gepflegt wirkenden Mann mit den auffällig hellen Haaren an, der offenbar ihr Anführer war. Es war genug Licht vorhanden, dass er sich seine Gesichtszüge einprägen und sich jedes Detail merken konnte, eine Fähigkeit, die aus langer Praxis entsprang.
Es würde nicht mehr helfen, schoss ihm durch den Kopf. Er würde keine Gelegenheit mehr haben, seine Beschreibung für eine Fahndung abzugeben, das war so sicher wie Dunkelheit in der Nacht. Und trotzdem prägte er sich alles genau ein, jedes noch so kleine Fältchen, weil das seine Aufgabe war – oder weil es ihm einfach das Gefühl von Kontrolle über die Situation gab.
Zwei andere Männer hatten zuvor bereits versucht, Informationen von ihm zu bekommen. Die meisten seiner Verletzungen hatte er sich nicht beim Sturz auf der Treppe zugezogen, sondern bei dem, was in diesen Kreisen Befragung genannt wurde. Auch jetzt war er nicht geneigt, zu antworten. Dass der Franzose ihn Bastard nannte, versetzte Mart einen allzu bekannten Stich, aber der Mann konnte unmöglich seine wahre Herkunft kennen.
„Mister William Smith, wir wissen, dies ist ein Deckname, aber wir haben genutzt gestrigen Tag und herausgefunden mehr.“ Der Mann lachte, als hätte er gerade einen derben Scherz gemacht. Dann beugte er sich vor und sein Gesicht kam Mart ganz nah. „Lord Haggrave, George Martin Haggrave, Baron Newgate, das dein wirklicher Name ist, und wir werden finden auch deine Frau und Kinder. Dann du reden wirst.“
Marts Gesicht versteinerte. Er durfte auf keinen Fall die Erleichterung zeigen, als klar wurde, dass die Franzosen auf seine sorgfältig aufgebaute Deckexistenz hereingefallen waren. Newgate – wie das berühmte Londoner Gefängnis – war beinahe zu auffällig, aber oft war es genau diese Offenkundigkeit, die das Gegenüber keinen Verdacht schöpfen ließ. Wer würde schon so einen Namen freiwillig wählen. Sollten sie nur nach seiner Familie suchen, sie würden niemanden finden.
Er schluckte. Selbst wenn sie seinen richtigen Namen hätten, wären ihre Bemühungen zwecklos.
Der Mann richtete sich wieder auf und entfernte sich einen Schritt. Dann fuhr er herum, stürzte nach vorn, packte Marts Kragen und zog ihn wieder dicht zu sich heran – ein Manöver, das ihn erschrecken und einschüchtern sollte. Er hatte dergleichen selbst zu oft angewandt, um das nicht zu wissen, und trotzdem klopfte ihm das Herz jetzt bis in seinen Hals hinauf.
„Unser Spezialist für Verhöre nicht kommt vor morgen früh, sacrebleu. Der schon herausbekommen wird die Information, fils de pute. Und danach ich dich schneiden werde höchstpersönlich in sehr kleine Stücken. Ich hoffe, dass du bleibst am Leben lang bei diese Behandlung als Sühne für den Tod meines Bruders.“
Mart schloss die Augen und zwang sich dazu, schlaff und reglos im Griff des Anführers zu hängen. Der Mann presste die Finger immer fester neben dem Kehlkopf in seinen Hals, und er wusste, dass der Druck auf die Halsschlagader ihn in wenigen Augenblicken bewusstlos werden lassen würde. Den Griff, der die Blutzufuhr zum Kopf abdrückte und das Opfer innerhalb weniger Herzschläge töten konnte, kannte er nur zu gut. Panik stieg in ihm auf, als helle Punkte vor seinen Augen tanzten und sein Körper nach Sauerstoff schrie.
Eine andere Stimme erklang durch das Rauschen in Marts Ohren. „Du kannst mit ihm tun, was du willst, sobald Le Couteau mit ihm fertig ist, aber bis dahin lass ihn leben, Colonel“, sagte der Mann in gehobenem Französisch und mit deutlicher Abscheu im Tonfall.
Der Angesprochene ließ ihn widerstrebend los, und Mart sog hektisch die Luft ein. Ihm war schwindelig und seine Kehle brannte wie Feuer.
Der Colonel wandte sich ab, und Mart bedauerte es beinahe. Dies wäre zumindest ein schneller Tod gewesen. Von dem Mann gefoltert zu werden, den man das Messer nannte, war eine Erfahrung, auf die er gern verzichten wollte.
Dann schoss der Anführer jedoch noch einmal blitzschnell zu ihm herum und verpasste ihm einen derart derben Faustschlag ins Gesicht, dass er mit dem Hocker nach hinten kippte. Hart krachte er mit dem Rücken auf den Boden und wieder verschlug es ihm den Atem. Sein Kopf knallte auf das Parkett und der gesamte Raum begann, sich zu drehen. Er hielt die Augen geschlossen, kämpfte aber verbissen darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Er musste wissen, was die Männer taten und was sie sagten, besonders wenn sie dachten, er könnte nicht mehr zuhören.
Wie erwartet sprachen sie jetzt wieder Französisch, aber das war kein Problem für ihn. Le Couteau würde in fünf oder sechs Stunden kommen, erfuhr er. Er würde seine Kunst anwenden, bis sie alles wussten. Dann redeten sie noch darüber, ob sie ihn nicht einfach in die Themse werfen sollten. Der Colonel wollte jedoch unbedingt seine Rache und ergötzte sich an seinen Erklärungen, wie er ihn vor seinem Tod noch weiter quälen könnte.
„Gerard, gib mir den Krug“, hörte Mart den Colonel sagen.
Im nächsten Moment wurde Wasser über sein Gesicht gekippt. Reflexartig riss er den Mund auf und leckte mit seiner trockenen Zunge die wenigen Tropfen von seinen Lippen. Dies schien jedoch den quälenden Durst nur zu verstärken.
„Hier, du traitre, hier stelle ich den Krug hin. Er ist noch halbvoll, nur dass du es weißt, aber du kannst ihn nicht erreichen.“ Der Colonel lachte, dann verließen die Männer den Raum, und Mart öffnete die Augen.
Der Krug stand tatsächlich nicht allzu weit von ihm entfernt auf dem Boden, aber er war noch immer an diesen Schemel gefesselt und konnte weder Arme noch Beine bewegen. Auch Wasser in Griffweite bereitzustellen, das aber doch unerreichbar ist, war eine weit verbreitete Praktik, um Gefangene zum Reden zu bringen. Etwas zu sehen, das die Qualen lindern würde, verschlimmerte den Schmerz, hielt ihn dauerhaft im Bewusstsein.
Die angewandten Techniken zu kennen, änderte jedoch gar nichts daran, dass die Methoden am eigenen Leib funktionierten. Unter größter Willensanstrengung löste Mart den Blick vom Krug und sah zum Fenster. Die untere Hälfte war mit Brettern vernagelt, dort kam er nicht so einfach hinaus. Selbst ohne die Fesseln könnte er wohl kaum fliehen, denn er war inzwischen in einem miserablen Zustand. Sein Körper schmerzte, er konnte mit den gebrochenen Rippen kaum atmen und immer wieder wurde ihm schwindelig. Er versuchte die Knoten an seinen Handgelenken zu lockern, aber er schaffte es kaum, bei Bewusstsein zu bleiben, und immer wieder fielen ihm die Augen zu.
Es war aussichtslos.
Auch wenn es eigentlich in seiner Natur lag, umso härter zu kämpfen, je schlechter die Chancen standen, in seiner jetzigen Situation gab es keine Hoffnung mehr. Er dachte an seine Großeltern, die er kaum kannte, an die drei Menschen, die er Freunde nennen durfte, und an seine Leute, die ihm zwar seiner Position geschuldet steif, aber immerhin mit Respekt begegneten. Sein Herz schmerzte stärker als sein Körper bei dem Gedanken, sie alle nicht wiederzusehen. Ihm blieb nur übrig, zu warten und zu hoffen, dass sein Tod sich nicht ganz so lange hinziehen würde, wie dieser französische Sadist geplant hatte.
In wenigen Stunden hätte dies alles ein Ende, und er hoffte inständig, dass er es schaffen würde, wenigstens seine Würde zu bewahren.

* * *

„Britannia, was zur Hölle ist mit dem Landhaus geschehen?“
Bita fuhr erschrocken zusammen, als Kenneth fluchend in den Salon stürzte. Sie hasste ihren vollen Namen und niemand nannte sie mehr so, auch ihr Bruder normalerweise nicht.
„Britannia!“ Kenneth stützte beide Hände in die Hüften und baute sich vor dem Sofa auf. Sein edler französischer Gehrock wirkte verknittert, das Halstuch hing offen über seine Brust herunter und seine strenge weiße Bourse-Perücke saß ein wenig schief. Außerdem lallte er hörbar.
Sie quälte das schlechte Gewissen. Natürlich musste sie ihm die Situation mit dem Haus darlegen, aber das hätte sie viel lieber in einem ruhigen Gespräch getan, was kaum zu erwarten war bei seinem derangierten, aufgeregten und angetrunkenen Zustand.
„Setz dich doch und atme erst einmal durch. Ich werde das alles erklären.“
„Natürlich wirst du alles erklären. Wer sollte es auch sonst können? Vater unterscheidet ja einen Löffel nicht mehr von einer Gabel.“ Ihr Bruder ließ sich auf den Polstersessel ihr gegenüber fallen und stützte das Gesicht in beide Hände. „Ich bin immer noch fassungslos darüber, dass es ihm plötzlich so schlecht geht“, nuschelte er zwischen den Fingern hindurch.
Bita spürte Ärger in sich aufsteigen. Sie wagte es nicht, sich Kenneth wirklich entgegenzustellen, aber das Gefühl, dass er sie damals im Stich gelassen hatte, übermannte sie. „Das kam keineswegs so plötzlich. Du warst nur so lange fort, dass es dir nun so vorkommt.“
Es war nicht richtig, ihm seine Abwesenheit jetzt vorzuwerfen, aber sie musste die Gelegenheit ergreifen, das Thema zu wechseln. Sie konnte unmöglich mit ihm in diesem Zustand die finanzielle Lage der Familie erörtern. Sie fuhr also mit dem weniger heiklen, aber ebenso unangenehmen Thema fort. „Vater hat sich am Anfang wegen seines nachlassenden Gedächtnisses sehr gegrämt. Als Mutter dann starb, war er lange Zeit wie abwesend, beinahe in einer Art Starre gefangen. Erst in den vergangenen beiden Jahren ist er wieder entspannter und zufriedener.“
Gequält sah Kenneth auf. „Pah, zufriedener. Was für ein Leben ist das denn, wenn man nicht einmal mehr weiß, welche Tageszeit es ist und mit wem man beim Dinner sitzt? Himmel, er hat mich mehrmals mit William angesprochen. Onkel William wird er wohl gemeint haben. Die kleine Emerald versteht mehr von der Welt als der Earl.“ Kenneth schlug die Hände wieder vor das Gesicht und stöhnte. „Was für ein Leben.“
Bita sah mitleidig zu ihm hinüber. Ihr Vater, Edgar Colley, Earl Kingscote, erkannte nur noch die wenigen Menschen, mit denen er täglichen Umgang pflegte. Man musste ihm sagen, was er mit seinen Tagen anfangen sollte, wann es Zeit zum Essen oder zum Zubettgehen war, und Konversation mit ihm konnte sehr anstrengend werden. Und doch stimmte es auch, dass er in der jüngsten Vergangenheit zu seinem ruhigen, freundlichen Selbst zurückgefunden hatte und die Trauer über den Verlust seiner Ehefrau überwunden schien.
Ja, er wirkte in vielerlei Hinsicht mehr wie ein kleines Kind als Emerald mit ihren sechs Jahren, damit hatte ihr Bruder vollkommen recht.
„Wie auch immer“, riss Kenneth sie aus ihren Gedanken. „Ich bin jetzt wieder da, und die Dinge werden ab jetzt anders laufen, sehr viel anders.“ Er sah sie kurz an, dann stand er auf und ging zum Fenster. Noch einmal zuckte sein Blick zu ihr, dann sah er hinaus, und es wirkte so, als wollte er ihr nicht mehr in die Augen sehen.
„Für dich werden wir einen geeigneten Ehemann finden. Vaters Geisteszustand wird von einem Arzt begutachtet werden, und dann sollte er an einen Ort, an dem man sich um solche Erkrankungen besser kümmern kann.“
Bita sprang auf. „Was?“ Sie konzentrierte sich darauf, was Ken mit dem Earl zu tun gedachte, die Sache mit dem Ehemann schob sie für später in ihren Gedanken ganz nach hinten. „Das kannst du nicht machen! Er ist hier glücklich. Er hat Emmi und mich, seinen Kammerdiener, seine vertraute Umgebung. Er kennt sich hier aus und  – und außerdem sieht Doktor Woolving regelmäßig nach ihm. Das kann doch so bleiben.“ Sie hielt inne, um nach Luft zu schnappen, aber sie konnte Ken keine Gelegenheit zur Widerrede geben und fuhr unbeirrt fort. „Wir drei wohnen schon so lange hier zusammen, der Earl, Emerald und ich. Du hast doch dein eigenes Leben. Du … du …“ Bita schüttelte sich wie eine Katze, die einen Eimer Wasser abbekommen hatte, aber das Gefühl von Hilflosigkeit und Schwäche wollte nicht weichen. Ganz gleich, was sie sagte, am Ende würde Ken alles ganz allein entscheiden, wie es als Familienoberhaupt sein Recht war. Noch nie hatte sie es gewagt, derart die Stimme zu erheben, aber auch mit diesem Ausbruch würde sie nichts ändern können, das war ihr vollkommen bewusst.
„Natürlich kann hier alles so bleiben“, höhnte Kenneth mit Gift in der Stimme und wandte sich vom Fenster ab. Er warf theatralisch die Hände in die Luft. „Leider gehen ganze Landgüter verloren unter deiner ach so guten Aufsicht, meine liebe Schwester. Diese Scharade, dass angeblich der Earl die Geschäfte noch führt, wird jetzt aufhören. Auf der Stelle. Wäre ich doch nur früher zurückgekommen.“ Seine Stimme war immer lauter geworden und er war vor Bita stehen geblieben.
Sie duckte sich ein wenig, wünschte aber insgeheim, sie wäre größer und er könnte sie nicht so sehr damit beeindrucken, dass er sie um einen halben Kopf überragte. „Ja, wärst du nur früher zurückgekommen, anstatt unser gesamtes Geld auf dem Kontinent durchzubringen“, murmelte sie. Dann streckte sie ihr Kinn nach vorn und sah zu ihm auf. „Ich habe das Landhaus nicht verloren, Ken. Ich musste es verkaufen. Irgendwie musste ich ja die Lieferanten bezahlen und all die Schuldscheine, die sich in den Jahren angesammelt hatten.“ Sie erinnerte sich an die Scham, als sie den Verkauf angeordnet hatte. Es war ihr nicht einmal möglich gewesen, den Pächtern Lebewohl zu sagen, denn sie wäre mit Sicherheit in Tränen ausgebrochen. Sie spürte, dass auch jetzt die Dämme in ihr zu brechen drohten, doch sie musste ihm sagen, was geschehen war. „Immer wenn ein Brief von dir kam, hat Vater dir eine größere Menge Geld geschickt, obwohl wir uns das bei Weitem nicht leisten konnten. Und jetzt ist es weg. Alles. Nur dieses Stadthaus haben wir noch und ein wenig Geld, das ich in die Fracht der Sophia Elisabeth investiert habe.“
Nein, sie würde sich nicht vorwerfen lassen, dass sie Geld verschwendet oder nicht mit aller Sorgfalt und Ordnung die Geschäfte ihres Vaters weitergeführt hatte.
„Du hast was?“, rief ihr Bruder fassungslos. „Unser letztes Geld hast du in die Fracht eines Indienfahrers investiert? Das ist ja wohl das Dümmste, was ich je gehört habe. Weißt du, was da alles passieren kann?“
Bita musste sich daran erinnern, ihr Kinn vorgereckt und den Kopf aufgerichtet zu halten. Kens Vorwürfe trafen sie schwer, aber sie hatte nur getan, was auch ihrem Vater immer wieder gute Gewinne eingebracht hatte.
„Natürlich weiß ich das. Die letzten beiden Male konnte ich das eingesetzte Geld verdreifachen.“ Nun war sie doch wütend ob der ungerechten Vorwürfe. „Es vermehrt sich nicht von allein, weißt du. Wenn man kein Land mehr hat, kommt keine Pacht herein. Wovon hätten wir leben sollen, wenn ich nicht auf diese Art etwas verdient hätte? Ich hätte anfangen müssen, die Wertgegenstände im Haus zu verkaufen, und wie lange hätte uns das wohl gerettet?“
Kenneth war kreidebleich geworden. Er öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, ohne etwas zu sagen. Dann schüttelte er den Kopf und ging zum Fenster zurück. Er starrte hinaus, dann wandte er sich um und setzte zu einer Erwiderung an. Statt etwas zu sagen, sah er aber zur Tür.
„Warum seid ihr so laut?“ Eine dünne, verschlafene Stimme klang von hinten, und sie fuhr herum.
Sie eilte zu Emerald, die sich mit der einen Hand den Schlaf aus den Augen rieb, mit der anderen hielt sie die Stoffpuppe, die sie zum Schlafen stets bei sich hatte.
„Oh, mein Schatz, haben wir dich geweckt? Es tut mir leid.“ Bita hob die Kleine hoch und presste sie fest an ihre Brust, dann warf sie ihrem Bruder einen Blick zu, der ihn hätte töten sollen. Natürlich stürzte er keineswegs leblos zu Boden, sondern verengte ebenfalls die Augen und presste die Lippen zu einer harten Linie zusammen. Er holte tief Luft und schritt zur Tür.
„Darüber sprechen wir noch. Morgen. Ich gehe noch aus, es wird spät“, stieß er hervor, ehe er in der halbdunklen Halle verschwand.
Bita wandte sich Emmi zu und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. „Siehst du, und schon sind wir wieder leise.“ Sie setzte das Kind wieder auf den Boden. „Du bist schon so groß und schwer, mein Schatz, bald kann ich dich nicht mehr tragen. Komm, lass uns nach oben gehen, dann kannst du direkt weiterschlafen.“
Auf der Treppe kam ihr Emmis Kinderfrau entgegen. Miss Rounding war klein, noch kleiner als Bita selbst, und sehr rundlich und schnaufte wie ein Streitross bei jeder zweiten Stufe. Ihre streng nach hinten geflochtenen grauen Haare wirkten struppig und ihr Nachthemd war verknittert, als hätte sie einen sehr wilden Traum gehabt. Bita musste leise lachen, als sie sich fragte, wovon Miss Rounding wohl geträumt hatte.
„Verzeihung, Mylady, … ich hätte sie nicht … entwischen lassen dürfen“, brachte die Kinderfrau zwischen kurzen Atempausen hervor.
„Schon gut, Miss Rounding, auch Sie müssen schließlich mal schlafen. Es ist ja nichts passiert“, beruhigte Bita die Frau und sie gingen gemeinsam in Emmis Zimmer.
Im Kamin glühten noch die Reste des Feuers, und Miss Rounding stellte ihre Kerze auf die Anrichte, sodass der Raum gerade eben hell genug war, um das Kind wieder zu Bett zu bringen. Emerald schlief wieder ein, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührte.
Bita verabschiedete sich von der Kinderfrau, die sich wieder in ihre Kammer neben Emeralds Zimmer zurückzog, und ging den Flur hinab zu ihrem eigenen Schlafgemach, das auf der anderen Seite neben Emeralds lag. Unruhig begann sie, darin auf und ab zu laufen.
Sie hielt inne. So ging das nicht, auf diese Weise würde sie Emmi gleich wieder wecken. Außerdem brauchte sie dringend frische Luft. Wenn sie sich bewegte, konnte sie am besten nachdenken.
Sie würde also auch noch ausgehen, beschloss sie grimmig, wenn auch nur zu Fuß.
Sie gab zur Sicherheit Miss Rounding Bescheid, die übrigen Bediensteten schliefen längst. Dann schlüpfte sie in die festen Schnürschuhe, setzte ihre Haube auf und nahm Handschuhe und Cape. So gerüstet trat sie auf die drei Steinstufen vor dem Haus. Ein frischer Wind blies ihr entgegen, und sie war froh, dass es immerhin nicht regnete. Auch wenn es zu dieser Jahreszeit am Tage schon recht warm war, nachts konnte man deutlich spüren, dass der Sommer noch einige Wochen entfernt war. Mit einem Seufzer zog sie ihr dunkles Wollcape enger um sich und trat auf die Mill Street hinaus.
Es waren kaum Menschen unterwegs, kein Hufschlag war auf den Straßen zu hören, allein das Rauschen des Windes in ihren Ohren begleitete sie, als sie von der Mill Street in die Maddox Street und schließlich in die Regent Street abbog. Ihr fiel auf, dass sie falsch abgebogen war. Statt nur einmal den eigenen Häuserblock zu umrunden, war sie nun sehr viel weiter gegangen. Was hatte ihre Füße hierher geführt? Sie blickte zu dem silbrig schimmernden Mond auf, der einen Moment durch die Wolkendecke hervorlugte, als sie den Schrei vernahm.
„Fils de pute. Parle donc!“
Himmel, mussten diese Franzosen immer fluchen wie Ochsenkutscher? Aus dem Haus, an dem Bita vorbeiging, klangen lange Reihen französischer Flüche, und sie machte sich einen Spaß aus dem Versuch, all die Obszönitäten im Kopf zu übersetzen. Zwei Männer stritten lautstark darüber, ob sie einen dritten sofort umbringen oder erst länger quälen sollten.
Bita stockte der Atem. Das konnte unmöglich wahr sein. Verstohlen sah sie sich um. Die Straße war menschenleer, und es war eine gespenstisch stille Nacht. Hier standen keine Straßenlaternen, die nur entlang der Hauptstraßen brannten, daher gab es nur das fahle Licht des Halbmondes. Sie war nur wenige Straßenzüge weit gegangen und dies war sicher noch nicht ein Teil der Stadt, in dem man ein Verbrechen vermuten würde, das hier offenbar gerade besprochen wurde. Es musste ein schlechter Scherz sein. Oder probte vielleicht gerade jemand für ein schauerliches Theaterstück?
Sie straffte sich und betrachtete die umliegenden Gebäude genauer. Das Haus aus rotem Ziegel wirkte etwas heruntergekommen, anders als die übrigen in der Straße. Die unteren Fenster waren mit Brettern vernagelt und an der Tür hing ein Schild, das sie in der Dunkelheit nicht lesen konnte. Das Gebäude wirkte wie ein ganz normales Stadthaus einer ganz normalen, wohlhabenden Familie. Wahrscheinlich stand es zum Verkauf und sollte durch die Bretter inzwischen vor Vandalen geschützt werden.
So würde niemand wohnen wollen. Es musste sich jemand Zutritt verschafft haben. Diente es nun also als Unterschlupf für Verbrecher? Ohne weiter nachzudenken, trat sie in die schmale Gasse neben dem Ziegelhaus und lauschte gebannt. Eine Tür im Inneren wurde geöffnet, und ihr Herz schlug bis hinauf in ihren Hals. Die Franzosen waren gerade in den Raum getreten, unter dessen Fenster sie stand. Sie hörte einen dumpfen Aufprall und ein gequältes Stöhnen, das ihr beinahe den Magen herumdrehte. Dies musste der Gefangene sein. Einer der beiden Franzosen stellte fest, dass der traitre, der Verräter, bewusstlos sei und sie ihn nicht weiter verhören könnten, bis sie das Messer hätten. Sie kamen überein, dass sie jetzt erst einmal einige Ale bräuchten, und dass Le Couteau, das Messer, den Verräter morgen früh ordentlich aufschneiden würde.
Plötzlich wurde Bita klar, dass es sich nicht um eine Waffe, sondern um einen Namen handelte.
Sie schluckte. Wenn ein Verbrecher sich selbst „Messer“ nannte – den Gedanken wollte sie gar nicht zu Ende führen.
Ihr Herz raste, und sie fragte sich, was sie eigentlich hier tat. Angst schnürte ihre Kehle zu und sie fuhr zusammen, als die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. Um Himmels willen, die Franzosen waren auf die Straße getreten. Bita war froh, dass sie sich tief in die dunkle Gasse vorgewagt hatte. Sie hielt den Atem an. Die Kerle durften sie auf keinen Fall bemerken.
Die beiden redeten immer noch und die Stimmen verschwanden nicht die Straße hinunter, sondern kamen näher.
Ein Scheppern klang hinter Bita zwischen den Häusern. Sie fuhr panisch herum.
Eine Katze fauchte, es klirrte etwas, als wäre Glas auf Stein weiter hinten im Gang zersprungen. Als Bita sich schnell wieder umwandte, sah sie noch die Schemen der beiden Franzosen, die auf der Straße vorbeigingen. Dann entfernten die Stimmen sich.
Erleichtert sackte sie ein wenig in sich zusammen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt.
Doch, einmal.
Sie kämpfte gegen die Bilder an, die in ihr aufsteigen wollten. Ihr Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren wie Trommelschläge und sie fühlte sich wieder wie damals.
Hilflos. Ausgeliefert.
Das Haus war voller Menschen gewesen, aber niemand hatte sie gehört, niemand hatte ihr geholfen und niemand hatte ihr nachher geglaubt, als sie hatte erklären wollen, was geschehen war.
Sie hatte wieder das Bedürfnis, zu schreien, und presste schnell die Hand auf den Mund. Dann besann sie sich jedoch auf ihre Stärke, richtete sich auf, hob das Kinn und atmete tief durch. Sie war nicht mehr das verschreckte, hilflose Mädchen. Sie war jetzt älter, stärker. Es dauerte eine Weile, ehe sich ihre Atmung und ihr Herzschlag so weit beruhigt hatten, dass sie wieder klar denken konnte.
Sie vernahm ein schwaches Keuchen, kaum lauter als das Pfeifen des Windes.
Sie hörte ihn, den Mann, der hier gefangen gehalten wurde, der im Morgengrauen sterben sollte. Sie hörte ihn und sie wusste, was geschehen würde, denn er war den Verbrechern vollkommen ausgeliefert. Nein, sie konnte nicht einfach wieder weggehen, konnte sich nicht von ihm abwenden. Sie musste etwas tun, Hilfe holen, jemanden rufen.
Wen konnte sie um Hilfe bitten? Mutlos schüttelte sie den Kopf. Nein, niemand würde ihr glauben und niemand würde nur wegen ihrer wilden Geschichte in ein fremdes Haus eindringen. Ihre flachen Hände lagen auf den Brettern, die den unteren Teil des Fensters verschlossen, und sie lauschte gebannt auf das keuchende Atmen auf der anderen Seite.

* * *

Mit einem Ruck wachte Mart auf. Ein Geräusch hatte ihn aus der Bewusstlosigkeit gerissen, doch er konnte nicht erkennen, woher es kam. Das verletzte Auge war noch immer so geschwollen, dass er es nicht öffnen konnte, und auch auf der anderen Seite waren seine Lider verklebt. Wahrscheinlich handelte es sich um getrocknetes Blut.
Er lag vollkommen still und lauschte. Dem Klang nach entfernte jemand die Bretter vom Fenster. Holz splitterte und er hörte einen leisen Fluch. Die Stimme erschien ihm weiblich.  Im nächsten Moment quietschte ein Fenster in der Angel, und wenige Herzschläge später erreichte ihn ein Schwall frischer, kühler Nachtluft. Stoff raschelte auf die Art, wie es Kleider mit weiten Röcken taten.
Bildete er es sich ein? Wie viel Zeit war vergangen? Drang tatsächlich jemand durchs Fenster in das Haus ein?
Jemand kam auf leisen Sohlen näher.
Mart spannte sich an, erwartete unbewusst wieder einen Tritt oder Schlag, der ihn in die Bewusstlosigkeit zurückbefördern würde. Aber die Person schien sich an seine Seite zu hocken. Der Duft von Rosen und Zimt mischte sich in die Nachtluft und sofort fragte er sich, wie er das mit seiner zerschlagenen Nase überhaupt riechen konnte. Unerwartete Hoffnung breitete sich in ihm aus. Vielleicht konnte er doch fliehen, musste nicht sterben. Er wollte tief einatmen, doch seine gebrochenen Rippen ließen den langen Atemzug zu einem kurzen Stöhnen werden.
„Sie sind wach“, flüsterte eine Frauenstimme. „Das ist gut.“
Mart begann wieder zu zittern, wusste aber nicht, ob es die Kälte war oder die Chance, weiterzuleben, die seinen Körper zum Beben brachte. Er wollte antworten, brachte aber nur ein Krächzen zustande. Fingerspitzen legten sich sacht auf seine Lippen. „Schhh.“ Die Berührung verschwand wieder und die Frau machte sich an seinen Fesseln zu schaffen. Er lag noch immer an den Schemel gebunden am Boden, doch schon nach wenigen Augenblicken waren seine Hände frei. Er zog die Arme nach vorn und konnte ein weiteres leises Stöhnen nicht unterdrücken, als seine Schultern protestierten.
„Gleich geschafft“, flüsterte die Frau wieder so leise, dass er sie kaum verstand.
Mart nickte, obwohl sie das wahrscheinlich nicht erkennen konnte, und rieb seine geschundenen Handgelenke, um den Blutfluss wieder anzuregen. Als er seine Finger wieder spüren konnte, wollte er beim Lösen der Stricke an den Füßen helfen, aber inzwischen war das bereits erledigt.
„Wasser, bitte“, krächzte er und sein Blick suchte den Krug, der ihn schon so lange mit seiner bloßen Anwesenheit quälte. Die Frau sah sich um, griff danach, als sie ihn gefunden hatte, und half Mart dabei, sich aufzusetzen. Sie führte das Wasser an seine Lippen, und er schluckte gierig, während er den Krug aus ihren Händen nahm. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit setzte er ab, um zu Atem zu kommen. Natürlich quälte ihn immer noch jede Bewegung, aber inzwischen war sein vernebelter Kopf so klar geworden, dass er begriff, dass die Frau ihn befreien wollte. Sein Herz raste bereits in wildem Galopp davon und die Aussicht, zu entkommen, drängte alle Schmerzen zurück. Er wandte den Kopf zum Fenster und bemerkte, dass er noch immer nicht richtig sehen konnte. Mit dem Handrücken versuchte er, das Blut aus dem Auge zu wischen.
„Nicht“, hörte er, dann legte sich eine zierliche Hand um seine Finger und zog sie zur Seite. Etwas drückte sich gegen seine aufgeplatzte Augenbraue und er zuckte zurück.
„Verzeihung“, flüsterte sie ganz nah vor ihm, dann spürte er feuchten Stoff, der vorsichtig über seine Braue und das Auge wischte. Er blinzelte mehrmals und griff nach dem Tuch, um noch einmal über die Lider zu reiben. Erst dann konnte er endlich etwas erkennen. Ihre warme Hand legte sich an seine unverletzte Wange.
„Himmel, Sie sind ja eiskalt“, entfuhr ihr, dann drehte sie sich um. „Da lag etwas, eine Decke vielleicht.“
Er hörte, wie sie Stoff über den Boden zog.
„Oh, es ist ein Umhang.“ Ohne Umschweife legte sie ihn um seine Schultern.
Es war noch immer dunkel, daher konnte er kaum mehr als die Umrisse der Gestalt ausmachen. Die Frau stand nun auf und er erkannte Haube und Winterumhang, darunter ein Kleid mit aufwändigem, weitem Rock, wie er nur bei höhergestellten Damen getragen wurde.
„Können Sie aufstehen?“, flüsterte sie und hielt ihm die Hand hin, um ihm aufzuhelfen.
Da er sie auf keinen Fall mit seinem Gewicht umreißen wollte, stützte er sich jedoch lieber am Boden ab. Mühsam richtete er sich auf und als er schwankend stand, nahm die Dame einfach seinen Arm und legte ihn über ihre Schulter. Seine Rippe protestierte, der Raum drehte sich und augenblicklich musste er sich schwer auf sie stützen, um nicht wieder umzukippen.
„Wir müssen durch das Fenster. Denken Sie, das wird gehen?“
Sie zog ihn mit sich, und er hatte keine Wahl, als ihr zu folgen. Tatsächlich hatte er das Bedürfnis, sie an sich zu drücken, was natürlich vollkommen unangemessen war. Sicher war es nur die Kälte, die ihn unbewusst dazu drängte. Alles andere war kompletter Unsinn. Vielleicht hatte der Schlag auf den Kopf sein Denken nachhaltig beeinträchtigt. Sicher waren solche Gedanken nur auf die unerwartete Rettung seines Lebens zurückzuführen. Ein Leben, das er bereits aufgegeben hatte, das nun doch weitergehen durfte.
„Vorsichtig, draußen ist der Boden etwa drei Fuß tiefer als im Haus“, flüsterte die Dame.
Mart brummte leise zur Bestätigung und kletterte unbeholfen hinaus. Vorsichtig ließ er sich auf den Boden einer Seitengasse hinunter und wandte sich dann zur Wand um. Er musste sich an der Mauer abstützen, und trotzdem befürchtete er, dass seine Knie jeden Augenblick nachgeben würden. Erstaunlich geschickt, trotz des behindernden weiten Kleides, stieg die Dame nun ebenfalls nach draußen und schloss das Fenster. Sie bot ihm wieder ihre Schulter als Stütze, hielt mit der einen Hand seine Finger fest und schlang den anderen Arm um seine Mitte.
Er presste die Lippen zusammen und fixierte das Haus auf der anderen Straßenseite, um nicht dem furchtbaren Schwindel zu erliegen. Dann machte er den ersten Schritt, wobei sie ihn mehr mit sich zog und er selbst kaum Kontrolle über seine Bewegungen hatte. Schmerz flammte in seinem Brustkorb auf. Er atmete scharf ein und ihr Rosen-Zimt-Duft breitete sich in ihm aus. Noch nie war er einer Dame so nahe gewesen. Sein Herz raste. Noch nie hatte eine Frau oder irgendein Mensch überhaupt etwas derart Wagemutiges für ihn getan. Wer war sie, und warum tat sie das?
„Ich danke Ihnen“, nuschelte er mühsam. Seine Wange brannte dabei und er schmeckte wieder das Blut von seiner aufgeplatzten Lippe. „Wer sind Sie?“
„Bita“, antwortete sie, dann schüttelte sie den Kopf. „Britannia Colley, Lady Kingscote“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Mart“, antwortete er und zuckte im nächsten Moment zusammen. Warum verriet er ihr seinen richtigen Namen? Er hatte keine Ahnung, wer sie war oder warum sie ihn da herausgeholt hatte. Das alles konnte ebenso gut ein Trick sein, damit er sich in Sicherheit wiegte und Informationen preisgab. Ihr Name kam ihm bekannt vor, und es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis er sich erinnerte, wo er ihn schon einmal gehört hatte. „Sind Sie mit Admiral Kingscote verwandt, Mylady?“
Sie nickte. „Sie kennen meinen Vater? Admiral, ja. Deshalb hat er mir auch einen vermaledeiten Schiffsnamen gegeben“, stieß sie hervor, und seltsamerweise klang es bitter und liebevoll zugleich.
Er musste sich noch immer schwer auf die Lady stützten und den Blick geradeaus auf das Ende der Straße gerichtet halten. Die Welt um ihn herum schwankte trotzdem, als hätte er zu viel getrunken. So gingen sie eng aneinandergeschmiegt die Straße hinunter. Auch wenn jeder Knochen seines Körpers schmerzte, fühlte ihre Nähe sich so vollkommen richtig an, dass er sie nicht mehr loslassen wollte. Es war, als fülle ihre Anwesenheit einen Teil in ihm aus, von dem er nicht gewusst hatte, dass er bisher leer gewesen war. Das war natürlich Unsinn und nur darauf zurückzuführen, dass sie ihn gerettet hatte. Er musste seine streunenden Gedanken im Zaum halten, denn solche seltsamen Vorstellungen passten überhaupt nicht zu ihm. Trotzdem war er nicht sicher, ob er bald eine Kutsche finden oder sie noch länger im Arm halten wollte.
„Wir sind gleich am Cavendish Square, dort finden wir sicher eine Droschke.“ Sie hatte offenbar seine Gedanken gelesen.
„Mylady, warum haben Sie das getan, mich da herausgeholt? Woher wussten Sie überhaupt, dass ich dort war?“ Sprechen schmerzte immer noch, aber er musste sie das fragen, auch wenn ihm die Antwort vielleicht nicht gefallen würde. Die Lady lachte trocken auf.
„Es ist schwer zu glauben, aber ich kam zufällig vorbei und hörte die beiden Franzosen Ihren Tod planen.“
Bei dem Gedanken an die Gefahr, in der sie beide geschwebt hatten, verschlug es ihm beinahe den Atem. „Sie haben viel riskiert. Wenn Sie denen in die Hände gefallen wären …“ Er ließ das Ende des Satzes offen, denn darüber wollte er gar nicht weiter nachdenken. Eine Frage war aber noch immer offen. „Warum?“
Sie schnaubte. „Das ist nicht so einfach zu erklären. Ich konnte einfach nicht weggehen und nichts tun. Aber die beiden Männer sind aus dem Haus gegangen, es bestand nicht wirklich eine Gefahr, also für mich zumindest.“ Sie riss plötzlich ihren freien Arm hoch und winkte. „Ah, eine Droschke, jetzt müssen Sie sich nicht länger zu Fuß herumquälen.“
Mart nickte, aber mit ihrer Antwort war er noch nicht zufrieden. War dies alles nur gestellt? Würden in der Kutsche die Franzosen warten? Aber was sollte das alles? Die Lady hatte schließlich gar nicht versucht, ihn auszufragen. Selbst wenn dies keine Falle wäre, erschien ihm das seltsam. Interessierte es sie überhaupt nicht, wie er in diese Lage gekommen war?
Die Droschke kam heran und hielt neben ihm. Niemand wartete im Inneren. Natürlich nicht.
War er bereits so oft verraten worden, dass er nichts anderes mehr annehmen konnte, niemandem vertrauen konnte?
Er lehnte sich mit einem Arm auf die Kutschentür und drehte sich zu der Lady herum, sodass er sie zum ersten Mal geradeheraus ansah. Das fahle Licht des Mondes war kaum ausreichend, um sie richtig zu erkennen. Ein weiter Wollumhang hüllte ihre gesamte Statur ein und eine Haube mit breitem Rand bedeckte ihre Haare. Er gab auf und schüttelte innerlich den Kopf über sein Verhalten. Was machte es schon aus, ob sie hübsch oder hässlich war, er würde sie wahrscheinlich nie wiedersehen. Immerhin konnte er sich wie ein Gentleman benehmen und sie nicht länger hier herumstehen lassen.
„Mylady, bitte steigen Sie ein. Ich sollte Sie zuerst nach Hause bringen.“
Unvermittelt hob sie den Kopf und sah ihn geradeheraus an. „Dies ist Ihre Droschke, ich gehe zu Fuß.“ Noch immer konnte er sie nicht ganz sehen, denn der breite Rand ihrer Haube warf einen Schatten auf den oberen Teil ihres Gesichtes. Er sah nur den zierlichen Mund und das zurückhaltende Lächeln.
„Ich kenne Sie nicht und kann nicht mitten in der Nacht mit einem Fremden in eine Droschke steigen. Das werden Sie verstehen.“ Mart schloss kurz die Augen, dann nickte er langsam. Auch sie vertraute nicht leicht. Wahrscheinlich hatte sie ebenso ihre Gründe. Natürlich verstand er das, aber er hätte alles gegeben, um noch ein wenig Zeit an ihrer Seite zu verbringen. Schließlich wandte er sich ab und stieg ein. Durch die offene Droschkentür griff er nach ihrer Hand. „Mylady, ich verdanke Ihnen mein Leben. Ich werde diese Schuld niemals abgelten können, aber wenn Sie je Hilfe brauchen, würde ich gern für Sie da sein.“ Während er das sagte, suchte er in der Innentasche seines Umhangs nach seiner Karte. Als er sie schließlich fand, reichte er sie ihr, aber sie schüttelte den Kopf.
„Sie stehen nicht in meiner Schuld. Ich konnte heute für Sie tun, was vor vielen Jahren jemand für mich hätte tun müssen.“
Sie schluckte und senkte den Blick. Mart sah, dass es in ihren Augen glitzerte.
„Das hat heute meine Welt wieder etwas geradegerückt. Ich bin froh, dass ich diese Gelegenheit hatte.“ Einen Moment lang schien sie um Fassung zu ringen, dann hob sie das Kinn und ihre Verletzlichkeit war verschwunden. „Leben Sie wohl, und bitte lassen Sie sich auch in Zukunft nicht umbringen.“ Damit trat sie einen Schritt zurück und die Pferde zogen an.
Mart steckte den Kopf aus dem Fenster. Er wollte noch etwas sagen, sie doch noch in die Droschke bitten. Er konnte sie nicht ganz allein hier stehen lassen. Seine Augen suchten sie, aber die Lady war bereits in der Dunkelheit verschwunden.
Mit einem Kopfschütteln drehte er die Karte in seinen Händen. Sie wusste nicht einmal seinen vollen Namen. Es war offensichtlich, dass sie gar nicht wissen wollte, wer er war. Es schmerzte, aber dies war ihre Entscheidung. Er würde sie respektieren.

* * *

„Guten Morgen, mein Kind. Es ist doch noch Morgen, oder?“
Bita lächelte und musterte ihren Vater von oben bis unten, während er mit seinem Kammerdiener Winfield die Treppe herunterkam. Er sah frisch aus, ausgeruht und guter Dinge, ganz im Gegensatz zu ihr selbst.
„Ja, es ist Morgen, Vater. Lass uns in den Salon zum Frühstück gehen, Emerald kommt sicher auch jeden Moment.“
Sie sprach ihn stets mit „Vater“ an, wenn sie allein waren, um ihn jeden Tag aufs Neue an die Familienzugehörigkeiten zu erinnern. Ihr graute bereits jetzt vor dem Tag, an dem er nicht mehr wissen würde, dass sie seine Tochter war. Doktor Woolving hatte ihr erklärt, wie der geistige Verfall weiter fortschreiten würde, und es machte ihr Angst. Offenbar war diese Krankheit gar nicht so selten, trat aber meist bei Menschen auf, die wesentlich älter waren als er.
„Der Earl hat sich vollkommen allein angekleidet“, verkündete Winfield mit einem breiten Lächeln.
Natürlich war es die Aufgabe eines Kammerdieners, seinem Herrn diese Arbeit weitestgehend abzunehmen. Allerdings hatte der Doktor empfohlen, dass der Earl so viel wie möglich selbst tun sollte und dass der Kammerdiener ihm nur zur Hand gehen durfte, wenn er Schwierigkeiten hatte.
„Danke, Winfield, das ist großartig.“ Bita nickte und nahm den Arm des Earls, während der Diener sich mit einem noch breiteren Lächeln zurückzog.
Der Klang eiliger Schritte drang aus dem oberen Flur herunter und im nächsten Moment stürmte Emmi die Treppe hinab, dicht gefolgt von ihrem Kindermädchen.
„Miss Emerald, nicht so hastig, besonders auf der Treppe nicht!“, schalt sie.
„Bita, Popa, ihr könnt doch nicht ohne mich essen!“, rief das Kind im Laufen.
Bita spürte, wie der Earl den Arm von ihr wegzog, und wusste, dass er die nicht mehr ganz so kleine Emmi gleich hochnehmen und an seine Brust drücken würde. Die beiden hatte ein ganz besonderes Verhältnis, und Bita freute sich darüber. Trotzdem versetzte es ihr manchmal einen Stich, denn als sie selbst sechs Jahre alt gewesen war, hatte der Earl sie nicht in den Arm genommen. Ihr gegenüber war er stets kühl und distanziert gewesen. Das hatte sich erst geändert, nachdem er seinen Dienst als Admiral quittiert hatte, weil er selbst gespürt hatte, dass etwas mit seinem Gedächtnis nicht stimmte.
Sie seufzte. Eigentlich war es gut, dass er in seiner Verwirrtheit all die steife Formalität und die unpersönlichen Umgangsformen vergessen hatte, die seiner Position geschuldet gewesen waren. So konnte Emerald die Zeit mit ihrem Popa genießen, der ja eigentlich ihr Großvater war.
„Verzeihen Sie, Mylady, die kleine Miss wird jeden Tag wilder“, keuchte Miss Rounding.
Bita konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Miss Rounding war schon ihre eigene Kinderfrau gewesen, und auch die ihres zwei Jahre älteren Bruders. Schon damals hatte sie immer gesagt, dass Bita viel wilder als Kenneth gewesen sei. Wie sehr sich diese Dinge mit den Jahren herumgedreht hatten, dachte sie mit einem Kopfschütteln. Nun war Kenneth derjenige, der das Geld der Familie durchbrachte, und sie kümmerte sich um die Familie und die Liegenschaften. Zumindest bis vor Kurzem.
Sie folgte dem Earl und Emmi in den Salon, um das Frühstück einzunehmen.
„Du siehst erschöpft aus, Britannia. Hast du schlecht geschlafen?“
Bita erschrak, dass ihr Vater ihren Zustand bemerkt hatte. Immer wieder gab es Augenblicke, da wirkte er völlig normal und geistig gesund.
„In der Tat hatte ich einen furchtbaren Traum“, gab sie zurück. Die Ereignisse der vergangenen Nacht erschienen ihr bei Tageslicht selbst völlig unwahrscheinlich und phantastisch. Niemand würde glauben, dass es wirklich geschehen war.
„Oh, ein schlimmer Traum. Du musst ihn uns erzählen, dann wird es besser“, schlug Emmi vor. „Das sagst du mir auch immer, wenn ich geträumt habe.“
„Also gut, ich werde es erzählen.“ Mit einem schmalen Lächeln erinnerte sie sich an den großen, breitschultrigen Mann mit dem schwer verletzten Gesicht und den wilden schwarzen Haaren. „Ich bin durch die Straßen gelaufen und habe gehört, wie böse Männer davon sprachen, dass sie jemanden töten wollen. Dann bin ich in das Haus gegangen und hab ihnen ihren Gefangenen weggenommen.“ Sie lachte leise. Es hörte sich wirklich wie ein wilder Traum an.
„Oh, Bita, du hast ihn gerettet, nicht wahr?“, Emerald war ganz aufgeregt. Sie liebte spannende Geschichten, in denen die Frauen die Heldinnen waren. Leider musste Bita diese Gutenachtgeschichten stets selbst erfinden, denn in Büchern waren es immer die Männer, die in Not geratene Damen oder Mädchen retteten.
„Dann sind wir zusammen geflohen, und schließlich haben wir eine Kutsche gefunden“, fuhr sie mit dem Traum fort.
Emeralds Augen glänzten, und Bita konnte sehen, wie die Gedanken in ihrem Kopf sich überschlugen.
„Ja, eine schöne Kutsche mit zwei weißen Pferden. Und dann seid ihr eingestiegen und habt euch ganz feste geküsst.“ Emerald nickte ernst, als wäre dies das sichere Ende der Geschichte.
Gut, dass sie nicht wusste, wie sehr Bita diesen Ausgang ersehnt hatte. Man bekam leider selten, was man sich wünschte.
„Aber Miss Emerald, über so etwas spricht man nicht“, schimpfte Miss Rounding, die neben der Tür darauf wartete, dass die Familie das Frühstück beendete.
Der Earl hob den Blick von seinem Teller und sah Bita interessiert an. „Du hast jemanden geküsst? Nun, wenn du dir ganz sicher bist, dass er der Richtige ist, will ich euch nicht im Wege stehen. Wann wird er seine Aufwartung machen?“
Bita wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Wie war die harmlose Unterhaltung plötzlich in diese Richtung gekippt?
„Nein Vater, ich habe niemanden geküsst, es war nur ein Traum, ich werde nicht heiraten.“
„Wie schade, mein Mädchen. Ich wünschte, du würdest endlich dein Glück finden, so wie ich es mit meiner Elsbeth gefunden habe.“
Ja, das hatte Bita sich auch immer gewünscht. Das liebevolle und innige Verhältnis ihrer Eltern war ihr Vorbild gewesen. Auch sie hatte vor langer Zeit gedacht, sie hätte die Liebe ihres Lebens gefunden. Aber dann war alles ganz anders gekommen.
Sie seufzte und hatte plötzlich das Gefühl großer Leere in ihrer Brust. Schnell verschränkte sie ihre Arme und presste sie gegen ihre Rippen, als könnte sie damit verbergen, was sie empfand.
Nein, es war nicht richtig, sich über das zu grämen, was nicht zu ändern war. Sie führte ein gutes Leben mit ihrer kleinen Emmi und ihrem Vater. Sie musste dankbar sein, dass sie damals nicht verstoßen worden war, sondern Emerald als ihre kleine Schwester in der Familie behalten durfte. So konnte sie trotz allem ein Leben als unbescholtene Lady führen, auch wenn sie sich vom gesellschaftlichen Trubel zurückgezogen hatte. Sie hatte Glück gehabt und die Unterstützung ihres Vaters. Das war nicht selbstverständlich, wie sie sehr wohl wusste. Sie nickte noch einmal, um sich selbst zu bestätigen, dass ihr Leben gut und erfüllt war. Trotzdem blieb da eine Leere, die sie vor dem gestrigen Abend gar nicht so sehr gespürt hatte.
„Bita, warum hast du ihn nicht geküsst?“ Emerald kicherte, und Bita wusste, dass sie das nur deshalb fragte, damit sie noch einmal geküsst sagen konnte, und das wollte sie nur deshalb, weil Miss Rounding sie dafür gerügt hatte. Trotzdem traf diese Frage sie unvorbereitet.
Warum? Sie hatte gestern lange wachgelegen und versucht zu ergründen, welche erschreckenden Gefühle dieser Fremde in ihr geweckt hatte.
Nachdem Robert sich damals so schändlich verhalten hatte, war sie sich vollkommen sicher gewesen, dass sie nie wieder Zuneigung zu einem Mann empfinden könnte. Der große Fremde der vergangenen Nacht hatte allerdings schon von den ersten Minuten an ihr Herz schneller schlagen lassen. Es war vollkommen verrückt, denn sie hatte keine Ahnung, wer er war. Er könnte ein Verbrecher der übelsten Sorte sein. Nein, dazu war seine Sprache zu kultiviert gewesen. Andererseits gab es natürlich auch in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen üble Ganoven.
Verflixt, wer war er nur, und wie war er in die Hände der Franzosen gelangt? Diese Frage ließ sie nicht los, und irgendwie würde sie es herausbekommen, auch wenn sie noch keine Ahnung hatte, wo sie beginnen sollte.

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