Der verlorene Ritter
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Buch "Der verlorene Ritter" vor braunem Hintergrund mit alter Landkarte

Eine lange Leseprobe findest du unten auf dieser Seite.

Über das Buch

»Der Krieg muss um des Friedens willen geführt werden.« — Aristoteles

Er hatte alles verloren, als man ihn nach einem Überfall zum Sterben zurückließ. Jede Erinnerung, seine Vergangenheit, sogar sein eigener Name – ausgelöscht. Er wurde als Leibeigener verkauft, obwohl er eine Sache ganz sicher wusste: Er war ein Ritter.

Evert von Düssel trägt seinen neuen Namen wie die Rüstung, die ihn in den Krieg begleitet. Als harten, leblosen Schutz vor der Tatsache, dass er keine Vergangenheit, keine Wurzeln hat. Er führt nun sein Schwert für König Otto im Streit um die Krone in Aachen, als ihn eine Lanze vor der Mauer der Stadt erneut niederstreckt. Der Angriff wird abgewehrt und seine Männer müssen ihn zurücklassen. Wiederholt sich sein Schicksal?

Insa de Jong, die Tochter des flämischen Tuchhändlers, lebt in Aachen und fürchtet um das Leben ihres Bruders und Vaters. Alle Bürger sind als Mitglieder der Schützengilden zur Verteidigung der Mauern verpflichtet.

Ein schwer verwundeter Ritter der Gegenseite wird in ihr Haus gebracht. Insa will das Einzige tun, was in diesem schrecklichen Krieg noch einen Sinn macht: Ein Leben retten. Aber darf sie dem Feind helfen, der ihre Heimatstadt in Schutt und Asche legen will?

Leseprobe von "Der verlorene Ritter"

1 Gefolgsmann des Grafen

Im Jahre des Herrn 1191
bei Gut Rheindorf, Erzbistum Köln

„Der hier lebt noch.“
Er hörte die Worte, konnte ihnen jedoch keine Bedeutung zuordnen. Sein Körper verlangte nach Luft und gierig atmete er ein. Sofort schoss ein scharfer Schmerz durch seinen Brustkorb. Auch sein Kopf dröhnte und er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
„Hilfe“, stöhnte jemand kaum verständlich neben ihm.
Er brauchte ebenfalls Hilfe, konnte aber keine Worte hervorbringen, so sehr er es auch versuchte. Atmen, langsam und vorsichtig, das war das Einzige, zu dem er im Augenblick imstande war. Er lauschte auf die Stimmen der Männer, die irgendwo in der Nähe herumgingen. Würden sie ihn bemerken und ihm helfen, oder waren das die Kerle, denen er seinen Zustand zu verdanken hatte? Er ballte seine Rechte zur Faust, dann versuchte er, den Arm zu heben. Unmöglich. Der Schmerz in seiner Brust verdunkelte seinen Geist, aber mit aller Macht kämpfte er gegen die Bewusstlosigkeit. Atmen. Vorsichtig und flach ein- und ausatmen.
Die Reise. Nach und nach wurden seine Gedanken klarer. Er war mit seinem Ritter irgendwohin gereist, dann ein Pfeilhagel, ein Überfall. Sein Pferd hatte ihn abgeworfen und ein weiteres hatte ihn in den Boden getrampelt. Er war von den wirbelnden Hufen überall am Körper getroffen worden. Mehr wusste er nicht.
Bedrückende Stille breitete sich aus. Totenstille. Selbst das leise Keuchen seines eigenen Atems konnte ihr Gewicht nicht durchbrechen. Offenbar waren die Angreifer verschwunden und hatten ihn hier zum Sterben zurückgelassen.
Er wandte den Kopf zur Seite und blinzelte mehrere Male, um seine Sicht zu klären. Neben ihm ertönte wieder dieses schauerliche Stöhnen und etwas weiter entfernt wieherte ein Pferd. Die Männer, die weiter hinten durch den Hohlweg liefen, drehten sich jetzt um und kamen in seine Richtung.
„Hier, der hier hat ein gutes Schwert.“ Einer bückte sich, und er meinte zu sehen, dass der Kerl etwas vom Boden aufhob.
„Hilfe“, erklang es wieder gleich neben dem Mann.
Er lachte. „Dir kann niemand mehr helfen.“ Dann hob er das Schwert an.
„Nein, bitte …“ die Worte endeten in einem Röcheln. Dann war es still.
Er schloss die Augen. Es würde ihm nicht schwerfallen, sich tot zu stellen, denn weit entfernt davon war er ohnehin nicht. Die Männer kamen immer näher und er versuchte, so still wie möglich zu liegen. Einer stand jetzt direkt neben ihm.
„Hier schau mal, was ich gefunden habe.“
Sein Herz stolperte. Er hielt die Luft an. Einer der Kerle zerrte an seinem Schwertgürtel und nur mit Mühe konnte er einen Aufschrei unterdrücken, als die Bewegung flammenden Schmerz durch seinen Brustkorb jagte. Der Mann zerrte noch einmal an ihm. Scharf sog er die Luft ein, und trotz aller Anstrengung presste ein unterdrücktes Stöhnen sich aus seiner Kehle.
„Ach sieh an, der lebt auch noch. Ein Edelmann, seiner Kleidung nach.“
Er erwog kurz, die Luft wieder anzuhalten, aber das schien sinnlos. Dazu war es nun zu spät. Vielleicht war es auch besser so. Es konnte noch Stunden, wenn nicht gar Tage dauern, ehe der Tod ihn erlösen würde, und auf Rettung wagte er in dieser gottverlassenen Gegend nicht zu hoffen. Besser ein Schwert machte seiner Qual ein schnelles Ende.
„Ein Edelmann? Dann nehmen wir ihn mit. Vielleicht zahlt ja eine Partei Lösegeld. Was für einer ist es denn?“
„Ein Greif, Geldern oder Mark vielleicht, da kommt es auf die Farben an, aber sicher bin ich nicht. Hab nicht viel Ahnung von den ganzen Zeichen und Farben der hohen Leute.“
„Meinst du, der lebt wirklich noch? Der stöhnt ja nicht mal mehr.“
Ein Stiefel traf seine Rippen und er schrie auf. Japsend versuchte er, seinen Atem wieder zu beruhigen.
„Da hörst du es, ziemlich lebendig. Pack an und rede nicht.“
Seine Beine wurden hochgehoben und sein Körper schleifte über den Boden. Dann wurde er auf einen Wagen geworfen. Als sein Kopf aufschlug, schien er zu zerbersten und augenblicklich wurde es wieder dunkel.

Wachsein und Bewusstlosigkeit wechselten sich ab und er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Er lag auf einer einfachen Strohmatratze in einem halbdunklen Raum, der wie ein Keller wirkte. Drei Wände aus grob behauenen Steinen bogen sich zu einer niedrigen, gewölbten Decke. Sehr weit oben an einer Wand gab es eine kleine vergitterte Öffnung, die Licht hereinließ. Die vierte Wand gegenüber der Luke bestand aus dicken, krummen Holzstämmen, die in Boden und Decke eingelassen waren. Durch die Spalten der nur grob behauenen Stämme erkannte er einen Gang und eine ebensolche Holzwand weiter hinten, vielleicht eine weitere Zelle. Zwischen den letzten Stämmen in der Ecke war eine Gittertür eingelassen, die mit einem großen Schloss versperrt war. Außer dem Stroh, auf dem er lag, gab es nur den nackten, rauen Steinboden und einen Eimer in der Ecke, der wohl für die Notdurft bestimmt war. Die Luft roch modrig und dumpf, als hätte diese Zelle lange keinen Insassen mehr gehabt.
Er fühlte mit der Hand vorsichtig seinen Brustkorb ab und fand an zwei Rippen dicke Schwellungen. Wahrscheinlich waren sie gebrochen. Das unaufhörliche Pochen in seinem Kopf war jedoch viel schlimmer. Er konnte kaum die Augen offen halten oder sich auf die Seite drehen, denn sofort drohte sein Schädel zu zerspringen.
Ein Junge kam herein, brachte ihm Wasser und half ihm beim Trinken. Er erinnerte sich, dass der kleine Kerl das zuvor schon mehrmals getan hatte. Sein Magen war vor Hunger verkrampft, aber zu Essen bekam er nichts. Es war zuvor vollkommen finster gewesen, aber nun drang etwas Licht durch die Luke. Er nahm an, dass es wiederholt Tag und wieder Nacht geworden war, aber Zeit hatte jede Bedeutung für ihn verloren. Er konnte nicht sagen, ob es mehrere Tage waren, die er hier bereits lag, nur dass der Hunger ihn immer stärker quälte.
Irgendwann schaffte er es, sich aufzusetzen, obwohl sein Kopf pochte und Schwindel ihn schwanken ließ. Der Junge kam wieder herein. Barfuß, mit schmutzigem, schmalem Gesicht und einem fadenscheinigen Hemd bekleidet wirkte er wie ein Bettler.
„He, Bursche, danke für das Wasser“, sprach er den Kleinen an. Er versuchte ein Lächeln, doch ihm gelang nur ein mühsames Verziehen der Mundwinkel. Vielleicht konnte er von ihm etwas darüber herausfinden, wo er hier gefangen gehalten wurde. Er musste mit ihm reden, damit er nicht gleich wieder verschwand.
„Wie heißt du denn?“, wollte er wissen.
„Weiß nich. Sie sagen Bursche, aber meistens Dreckskerl. Ich weiß aber, dass das kein Name ist.“ Trotzig presste das Kind die Lippen zusammen und reckte das Kinn vor, was seine Wangen noch schmaler machte und die Augen in seinem kleinen, kantigen Gesicht größer wirken ließ.
„Hast du keine Mutter, die dich beim Namen ruft?“
„Nein, ich habe keine Mutter. Ich gehöre Vinzent, das ist alles.“ Die Miene des Jungen verschloss sich noch mehr. Er war offenbar ein Leibeigener, der schon als sehr kleines Kind seinen Eltern weggenommen worden war. Der Kleine konnte höchstens sechs Jahre zählen. Es musste schlimm sein, keine Familie zu haben und niemanden, dem man etwas bedeutete.
„Und wie heißt du?“, fragte der Junge unvermittelt. „Und wem gehörst du?“
„Ich …“ Er stockte. Seinen eigenen Namen kannte er natürlich ebenso gut wie den seines Ritters und seiner Familie. „Ich bin …“ Mit beiden Händen fuhr er über sein Gesicht, rieb die Augen und presste dann beide Handballen auf seine pochenden Schläfen. „Ich bin der Knappe von … Verflixt, es fällt mir nicht ein. Aber ich gehöre niemandem. Ich bin Knappe und diene meinem Ritter, bis ich selbst zum Ritter geschlagen werde, nächstes Jahr schon, denn dann werde ich einundzwanzig.“ Er stutzte. Warum wusste er das, aber nicht einmal seinen Namen?
„Schon gut, ich werde dich Evert nennen, das ist ein freundlicher Name, der passt zu dir.“
Er nickte vorsichtig, um das Dröhnen hinter seiner Stirn nicht zu verstärken. „Ja in Ordnung, du kannst Evert sagen, bis mir mein richtiger Name wieder einfällt. Wie soll ich dich nennen? Gibt es einen Namen, den du magst?“
„Gero gefällt mir. Ich habe bei den Küchenmädchen eine Geschichte gehört, wo Ritter Evert einen Drachen besiegt und sein Knappe Gero ihm dabei hilft.“ Der Junge straffte den Rücken, als wolle er sich größer machen, damit er wie ein Knappe aussah und schaute Evert herausfordernd an.
Er nickte. „Gero also. Leider bin ich kein Ritter, nur ein Gefangener, aber der Gedanke gefällt mir.“
Gero nickte knapp und wandte sich dann ab. Evert wünschte sich, dass er noch einen Moment bliebe, aber die kurze Unterhaltung hatte ihn schon so sehr erschöpft, dass ihm keine weiteren Fragen in den Sinn kamen. Nach wenigen Minuten ertönten wieder die leisen Schritte von Geros nackten Füßen und der Junge brachte ihm Suppe und Brot. Evert bedankte sich und verschlang beides hungrig, während Gero ihm zusah. Es vergingen weitere Tage, in denen er niemanden außer dem Jungen zu Gesicht bekam, aber immerhin blieb der Kleine jedes Mal, bis er gegessen hatte und schenkte ihm so ein wenig Gesellschaft. Morgens und abends bekam er Wasser und eine Portion Brei oder dünne Suppe, die wahrscheinlich für einen Burschen wie Gero ausreichend gewesen wäre. Für ihn selbst war es nicht einmal genug, um einen Augenblick lang den Magen zu beruhigen. So ließen zwar die Schmerzen in seinem zerschlagenen Körper nach, aber der andauernde Hunger nagte in seinen Eingeweiden und er fühlte sich mit jedem Tag schwächer statt kräftiger.

Es war dämmrig und er ritt an der Spitze der Gruppe neben seinem Herrn durch einen engen Hohlweg. Es war ein besonderes Privileg, dass er auf dieser Reise ein eigenes Pferd hatte, aber der Weg war lang und alle in der kleinen Gruppe waren beritten, um schneller unterwegs zu sein. Er war stolz darauf, reiten zu dürfen, auch wenn sein Tier klein und struppig war, im Vergleich zu dem eleganten Schimmel seines Herrn und den kräftigen Pferden der übrigen Reiter. Sie reisten zu fünft, denn sein Ritter war ein wichtiger Mann, der gut beschützt werden musste. Außerdem war es ein bedeutendes Schriftstück, das sie nach Köln bringen mussten, und zwar so schnell wie möglich. Über den Inhalt wusste er nichts, denn Derartiges würde man einem Knappen natürlich nicht anvertrauen. Während sie durch den Wald ritten, fantasierte er, ob es ein Friedensvertrag, eine Kriegserklärung oder gar eine Botschaft vom König war, die sie transportierten.
Wie aus dem Nichts hagelte es plötzlich Pfeile auf sie hernieder und er wurde am Bein getroffen. Sein Blick raste umher und dann sah er die Bogenschützen in den umliegenden Bäumen hocken.
„Eine Falle!“, brüllte er und wandte sich zu seinem Ritter um. Er sah gerade noch, wie dessen Schimmel zusammenbrach und er in den Schlamm geworfen wurde. Sein eigenes Pferd bockte und stürmte dann kopflos voran. Im nächsten Moment wurde er ebenfalls abgeworfen und landete mit einem Aufschrei in einem Dornengebüsch. Er hörte seinen Herrn fluchen und rufen, konnte sich aber nur mühsam aus den Ranken befreien. Es dauerte eine Ewigkeit, ehe er imstande war, auf den Weg zurück zu kriechen, aufzustehen und sich nach seinem Herrn umzusehen. Der stand mit gezogenem Schwert in einem Kreis von vier Angreifern. Er wusste sofort, dass der Ritter keine Chance hatte, wenn er ihm nicht zu Hilfe kommen würde. Hastig stolperte er nach vorn, sein verletztes Bein trug ihn jedoch nicht und er stürzte der Länge nach zu Boden. Als er den Kopf wieder hob, sah er noch, wie ein Schwert die Brust seines Ritters durchbohrte. Dann rannte ein reiterloses Pferd in seine Richtung und im nächsten Moment wurde es um ihn dunkel.

Schreiend fuhr er hoch und sah sich hektisch um. Sein Kopf dröhnte und sein ganzer Körper schmerzte. Nein, er war nicht mehr im Wald, sondern im Kerker. Verzweiflung presste seine Brust zusammen. Wenn er schon nicht tot war, so hatte er es auf jeden Fall verdient, im Kerker gelandet zu sein, denn er hatte versagt. Es war die einzig wirklich wichtige Aufgabe eines Knappen, seinem Herrn in der Not beizustehen, an seiner Seite zu kämpfen. Und was hatte er getan? Er war nicht dort gewesen, als die Mörder seinen Ritter angegriffen hatten, er hatte ihn sterben sehen und nichts tun können. Nicht einmal im Tod war er an seiner Seite geblieben.
Mit einem Stöhnen drehte er sich zur Wand und schloss die Augen. Immerhin würde seine Familie nie von seinem Versagen erfahren, denn sie hielten ihn sicher für tot. Aber er war nicht tot, war nicht mit seinem Herrn gestorben. Stattdessen hockte er in diesem Kerker und wusste nicht mehr, wer er war. Er hatte alles verloren, war selbst verloren.
Am nächsten Tag brachte Gero ihm eine kleine Schüssel mit dem üblichen Getreidebrei zum Frühstück und eine Kanne mit Wasser. Als der Junge zurückkehrte, um die Schale wieder abzuholen, begleitete ihn ein riesiger, grimmig dreinblickender Kerl, der ebenso fadenscheinige und dreckige Lumpen trug wie Gero. Er hatte ein hageres Gesicht mit eingefallenen Wangen und tief liegenden Augen und einem schmalen Mund, der zu einem Strich zusammengepresst war. Hinter ihm betrat ein kleiner, rundlicher Mann die Zelle und im schwachen Licht des Fensters erkannte Evert, dass er vornehm gekleidet war und ein Schwert am Gürtel trug. Er betrachtete Evert mit einem abschätzigen Blick.
„So, Kerl ohne Namen, hast deinen Kopf wohl auf dem kölnischen Hohlweg verloren, was? Ist dein Kopf jetzt genauso hohl wie der Weg?“ Der Kleine lachte dröhnend über seinen eigenen Witz und sein ganzer Bauch bebte dabei, während der Riese mit dem verschlossenen Blick keinerlei Regung zeigte. Unvermittelt wurde er wieder ernst und sah Evert mit schmalen Augen an, als wäre er ein Rätsel, das es zu lösen galt.
„Die Grafen von der Mark wollen dich jedenfalls nicht mehr. Haben gesagt, ihnen würde niemand fehlen, für den sie etwas bezahlen müssten.“ Er rieb mit der Hand über seinen kurzen Bart. „Hätten dich vielleicht besser da liegenlassen sollen und nur deine Sachen nehmen, hm? Jetzt haben wir dich einmal hier, aber wenn wir dich nicht verkaufen können, bist du ja nur ein unnützer Fresser.“
Evert schluckte. Unnützer Fresser. Die Menge an Essen, die er in der ganzen Zeit bekommen hatte, war sicher weniger, als dieser Mann an einem einzigen Tag aß, wenn man seinen Umfang betrachtete. Der Junge und der finstere Riese sahen auch nicht so aus, als bekämen sie annähernd ausreichend Nahrung, hager wie sie waren.
„Hat ja lange genug gedauert, bis du hochgekommen bist“, riss der Mann ihn aus seinen Gedanken. „Ich hatte eine Wette laufen, dass du es nicht schaffst, Namenloser.“
„Evert, Herr Vinzent, das ist sein Name“, wandte der Junge leise ein.
„Ist das so? Evert? Wie auch immer, heute Abend kommt einer der Leute vom Berg. Vielleicht will der dich ja mitnehmen.“
Hoffnung, endlich aus dem Kerker herauszukommen, breitete sich in Everts Brust aus. Aber welches Schicksal erwartete ihn? Er sah von einem zum anderen. „Wenn ich nicht zu denen gehöre, warum sollte er mich nehmen? Ihr habt uns doch angegriffen und alle aus meiner Gruppe getötet. Ihr werdet doch wissen, wer mein Herr ist und wohin ich gehöre.“
„Unsinn“, gab der Mann zurück. „Ich habe niemanden getötet. Nun ja, vielleicht hat einer meiner Männer für ein oder zwei Verletzte den Weg in den Himmel etwas beschleunigt.“ Er lachte wieder boshaft und sah Evert dann missbilligend an. „Oder den Weg in die Hölle. Aber ich bin kein Mörder. Ich betreibe ein ehrbares Geschäft mit Arbeitskräften. Der Einzige weniger Ehrbare hier ist Buro, der Totengräber.“
Mit dem Daumen wies er auf den finsteren Riesen, der bis jetzt noch kein Anzeichen gegeben hatte, dass er überhaupt zuhörte. Dann fuhr der kleine Mann fort.
„Wenn sich die Gelegenheit ergibt, erleichtern wir die seligen Verstorbenen nur um die Dinge, die sie ohnehin nicht ins Jenseits mitnehmen können. Ab und an verschaffen wir dem guten Buro hier auch ein wenig zusätzliche Arbeit.“ Er wandte sich grinsend zu dem Hünen um, der mit verschränkten Armen und unbewegter Miene am Gitter stand.
„Im Gegensatz zu dir redet er nicht, und auch du wirst über unseren kleinen Nebenerwerb den Mund halten, wenn der Ritter da ist, verstehen wir uns?“
Evert nickte vorsichtig. Er war sicher, dass dieser Vinzent ihn auf der Stelle umbringen würde, wenn er sich widerspenstig gab. Seinem Ritter und den anderen konnte er dadurch ohnehin nicht mehr helfen.
„Wenn der Berger dich nehmen soll, muss das da weg“, erklärte er und wies auf Everts Wappenrock.
Evert hob vorsichtig einen Arm und versuchte, das Kleidungsstück hochzuziehen, aber bei jeder Bewegung war es, als stachen Messer in seine Brust.
Vinzent machte ein paar seltsame Handbewegungen zu Buro und plötzlich stand dieser mit einem gezückten Messer vor Evert. Noch ehe er ausweichen konnte, hatte Buro ihn am Kragen gepackt und das Messer gegen seine Kehle gepresst. Everts Atem stockte und Vinzent lachte erneut, als hätte er einen besonders guten Scherz gemacht, dann machte er ein Handzeichen, und das Messer verschwand wieder von Everts Hals. Mit einem präzisen Schnitt zerteilte Buro daraufhin den Wappenrock vom Kragen bis zum Saum und das Hemd darunter gleich mit. Dann riss er das zerstörte Gewand von seinem Körper. Ohne hinzusehen warf er es dem Jungen zu.
„Verbrennen“, bestimmte Vinzent mit einem Nicken zu Gero und Buro trat mit steinerner Miene wieder zum Gitter zurück.
Evert zitterte, und das rührte nicht nur von der plötzlichen Kälte auf seinem nackten Oberkörper. Was hatte der Mann jetzt vor? Er würde ihn doch wohl nicht umbringen, wenn er ihn verkaufen konnte, oder? Mit seinen verletzten Rippen und dem schmerzenden Schädel war er jedenfalls nicht in der Lage, sich zu verteidigen, nicht gegen Buro. Ohne weitere Erklärungen verließen die drei die Zelle und die Tür schlug hinter ihnen zu.

Es war immer noch hell, so dämmerig hell, wie es in dem Verlies nun einmal wurde. Evert lag zitternd auf dem Strohhaufen, der während seiner Zeit hier immer platter geworden war. Die Eiseskälte des Bodens hielt das Stroh schon lange nicht mehr ab. In den letzten Stunden war ihm allerdings so kalt geworden, dass er fürchtete, völlig steif zu werden und irgendwann zu erfrieren. Seit Vinzents Besuch trug er nur noch die Beinkleider, sein Oberkörper war nackt und die Kälte kroch mit jeder Minute tiefer in seine Knochen.
Er hörte wieder Schritte, die leichten, schnellen des Jungen und schwerere, die nur halb so oft zu hören waren. Buro öffnete abermals seine Zelle, dieses Mal war er ohne Vinzent gekommen. Der Kerl sah ihn mit seiner üblichen steinernen Miene an, und Evert fragte sich, was er wollte. Dann wies Buro wortlos zur Tür. Gero hatte sich hinter dem Hünen hereingeschoben. Sein ausgefranstes Hemdchen und seine dünnen Arme wirkten neben dem Riesen noch armseliger als sonst.
„Du sollst mitkommen“, erklärte der Junge.
Evert nickte und drückte sich auf Hände und Knie hoch. Er zitterte inzwischen so sehr, dass ihm die Koordination schwerfiel, aber schließlich schaffte er es, aufzustehen. In seinen Schläfen pochte es und ihm wurde schwindelig, aber er wagte nicht, den Zorn des großen Totengräbers auf sich zu ziehen, indem er stehen blieb. Also wankte er zur Tür und dann den Gang des Kellergewölbes entlang. Der Druck in seinem Kopf schien mit jedem Schritt zu steigen. Schließlich erreichten sie den Ausgang und grelles Sonnenlicht blendete ihn. Erst jetzt bemerkte er, dass Gero die kleine Hand in seine geschoben hatte. Ob er ihn stützen wollte, oder selbst Rückhalt suchte, war Evert nicht klar, aber es war auch gleich. Mit halb geschlossenen Augen und dröhnendem Schädel ging er weiter. Immerhin war es hier draußen deutlich wärmer als im Verlies. Die Sonne schien auf seine nackte Haut und wärmte ihn ein wenig, blendete ihn aber auch, denn er hatte sich zu sehr an die Finsternis des Kerkers gewöhnt. Geros Hand bot ihm den einzigen festen Punkt in der schwankenden und verschwommenen Umgebung. Dann blieb der Junge stehen, und auch Evert hielt an. Er hob den Kopf und blinzelte. Vor ihm stand ein großer, hagerer Mann mit schwarzen Haaren, der mit Wappenrock und Schwert wie ein Ritter gekleidet war.
Neben Evert saßen zwei Männer am Boden, die ausgemergelt und kraftlos wirkten und es war eindeutig, dass sie alle hier draußen vorgeführt wurden. Er sah sie sich so genau an, wie es mit den Kopfschmerzen ging. War jemand von seiner Reitergruppe dabei? Nein, er erkannte keinen von ihnen und sie sahen ihn auch nicht an, als würde er bei ihnen eine Erinnerung wecken. Jeder wurde von einem von Vinzents Männern begleitet und auch die Bewacher waren hager und in armselige, schmutzige Lumpen gehüllt. Es war offensichtlich, dass nur Vinzent selbst von seinem sogenannten ehrbaren Geschäft profitierte und seine eigenen Leute kaum besser behandelte als seine Gefangenen.
„Wen haben wir denn hier? Der hat ja nicht einmal Kleidung. Bist du sicher, dass das einer von uns ist?“ Offenbar hatte der Ritter nicht Evert angesprochen, sondern Buro neben ihm. Der reagierte jedoch nicht.
„Ah, hoher Herr. Der arme Mann ist taub und stumm, er kann Euch nicht antworten. Ich gebe ihm aus Mitleid eine Arbeit, aber mein gutes Herz wird mich noch ruinieren. Ich sehe, Ihr habt euren jungen Gefolgsmann schon gesehen“, klang von hinten die bekannte Stimme von Vinzent.
Evert war sich bewusst, dass er nur deshalb noch atmete, weil Vinzent ein Lösegeld für ihn erwartete. Würde das niemand zahlen wollen, wäre es mit seinem Leben recht schnell vorbei. Natürlich hatte der Leichenfledderer nicht damit gerechnet, dass er sein Gedächtnis verlieren und sich nicht einmal an seinen Namen erinnern würde. Es schmerzte ihn zusätzlich, dass ihn unter den Herren der Mark, zu denen er anscheinend gehörte, niemand vermisste. Er musste doch eine Familie haben, Eltern, die ihn suchten. Zumindest die Familie des Ritters, dem er gedient hatte, musste ihn doch kennen und würde ihn möglicherweise auslösen, auch wenn dieser den Angriff selbst nicht überlebt hatte.
„Wir wissen seinen Namen nicht. Er nennt sich Evert, aber er hat seine Erinnerung verloren, der Ärmste.“ Vinzents Stimme klang übermäßig mitleidig, so wie schon zuvor bei der Erwähnung von Buro.
Wenn er an die Behandlung in der letzten Zeit dachte und den schlechten Zustand der Männer, die Vinzent dienten, konnte er über diesen Ton allerdings nur lachen.
„Ist es nicht eine Schande, dass man ihn einfach auf dem Weg liegengelassen hat?“ Er redete noch weiter, aber Evert hörte nicht mehr zu. Sein Kopf wollte platzen und er konnte sich kaum noch aufrecht halten.
„Der kippt ja gleich um. Sein Brustkorb hat auch einiges abbekommen, so wie das da aussieht.“ Der Ritter wies auf die Schwellungen auf Everts Rippen und die Haut an Brust und Bauch, die inzwischen alle Farben des Regenbogens aufwies. „Was habt ihr mit ihm gemacht? Und was ist mit seiner Ausrüstung? Da müssen doch die Wappen seiner Familie oder seines Herrn drauf sein?“
„Wir haben ihn in diesem schrecklichen Zustand gefunden. Seine Sachen haben ihm sicherlich schon diese schlimmen Leichenfledderer entwendet“, gab Vinzent vor und ein abfälliges Schnauben brach unwillkürlich aus Evert hervor.
Er behauptete weiter: „Wir haben ihm bis jetzt die beste Pflege zukommen lassen, er wäre sicher sonst nicht mehr am Leben. Aber wenn er ganz sicher keiner von euren Leuten ist, können wir ihn Euch wohl als Leibeigenen verkaufen. Wenn niemand Anspruch erhebt und wir kein Lösegeld bekommen, müssen wir ja trotzdem eine Entschädigung für unsere enormen Aufwendungen und unsere Umstände haben.“
Evert unterdrückte ein weiteres Schnauben, als er an die gute Pflege und die enormen Aufwendungen zurückdachte. Er würde sicher nicht aussagen, dass er vielleicht von der verfeindeten Grafschaft stammte, denn dann würde der Ritter ihn gar nicht mitnehmen und sein Schicksal wäre besiegelt. Es sollte ihm eigentlich völlig gleich sein, unter welchem Ritter er diente. Loyalität für den Herrn, dem er bisher gedient hatte, würde ihn jetzt nicht retten. Er war schließlich tot, und niemand hatte nach ihm gesucht. Es schmerzte fast mehr als die Wunde an seinem Kopf, dass seine Familie und die seines Ritters ihn einfach so aufgegeben hatten. Was band ihn noch an eine Vergangenheit, an die er sich nicht erinnerte und an Menschen, denen er offenbar nicht wichtig war? Wenn der Mann, der vor ihm stand, ihn nur mitnehmen würde, er wäre schon aus Dankbarkeit ein ehrenhafter Gefolgsmann.
Everts Knie gaben nach, und er sank zu Boden. Der Ritter trat einen Schritt zurück, aber Gero blieb neben ihm und hielt immer noch seine Hand. Evert kämpfte darum, trotz des Nebels und des grauenhaften Drucks in seinem Kopf bei Bewusstsein zu bleiben. Hier entschied sich jetzt sein Schicksal. Würde er eine Chance bekommen, sein Können zu Pferd und an den Waffen als freier Mann zu beweisen? Oder würde er in Zukunft jemandes Besitz sein, der dann nach Gutdünken über ihn bestimmen konnte? Dann gab es noch die Möglichkeit, dass Vinzent ihn einfach umbrachte, wenn er kein Geld einbrachte. Er kämpfte sich wieder in eine kniende Position und senkte den Kopf.
„Ich habe meinem Ritter treu gedient, auch wenn ich seinen Namen nicht mehr weiß“, presste er mühsam hervor. Flach atmend kämpfte er gegen die Dunkelheit, die sich in seinem Geist ausbreitete. Er musste sich von seiner besten Seite zeigen. „Ich bin in der Schwertführung, mit der Lanze und der Streitaxt geschult. Ich kenne die Werke der Kriegskunst und habe Unterricht in den Sprachen Französisch und Latein bekommen.“ Er holte tief Luft und stöhnte auf, als ein scharfer Stich von seinen gebrochenen Rippen ausging. Evert wusste nicht, warum diese Details zu seiner Ausbildung plötzlich in seine Erinnerung sprudelten. Für diese Frage war jetzt allerdings nicht die passende Zeit. Sobald er wieder zu Atem gekommen war, fuhr er fort. „Ich werde Euch ein guter Knappe sein. Im nächsten Jahr bin ich einundzwanzig Jahre alt und majorenn, dann kann ich zum Ritter geschlagen werden. Ich werde Euch als Ritter Gefolgschaft geloben und stets an Eurer Seite kämpfen.“ Er japste, als wäre er in vollem Tempo gerannt, aber Schwäche breitete sich in ihm aus und er sank zur Seite, ohne etwas dagegen tun zu können. Gero schlang seine dünnen Ärmchen um ihn und schaffte es irgendwie, ihn aufrecht zu halten.
„Schon gut, du hast offensichtlich die Ausbildung eines Adeligen genossen, das hört man schon an deiner Ausdrucksweise. Ich denke, du gehst als einer der Knappen des Grafen von Berg durch“, bestätigte der Ritter. „Mein Name ist Rainald von Hövel. Ich werde eine Aufgabe für dich finden, bis der Graf beschließt, was weiter mit dir geschehen soll.“ Dann wandte er sich an Vinzent. „Für drei Silber nehme ich ihn mit. Wir wissen immerhin nicht, wer er wirklich ist.“
„Bei den Schwertern des Königs, der Bursche ist von Adel, das sieht man doch gleich. Wenn ihr erst seinen Namen herausgefunden habt, wird seine Familie ein Vermögen für seine Rückkehr bezahlen. Unter zehn Silber kann ich ihn Euch nicht überlassen.“
Der Ritter von Hövel – seinen Rang hatte er nicht genannt – lachte dröhnend. „Soeben wolltet ihr ihn noch als Leibeigenen abgeben. Er ist groß und kräftig gebaut, aber noch ist er verletzt und zu nichts zu gebrauchen. Ich gebe Euch vier Silber, aber dafür kommt der kleine Bursche mit. Der kann ihn dann in der Burg erst mal gesund pflegen.“
Evert spürte, wie Geros Hand sich fest in seinen Oberarm krallte und der Junge sich zitternd gegen ihn drückte. „Oh ja bitte“, flüsterte er kaum hörbar. „Ich möchte bei dir bleiben.“
„Also wirklich“, gab Vinzent zurück, der jetzt direkt hinter ihm stand. „Ihr seid ein harter Verhandlungspartner. Ich weiß das zu schätzen. Der Junge kostet allerdings ein Silber extra.“
Der Ritter feilschte schließlich noch mit Vinzent um die beiden anderen, die er als Pferdeknechte gebrauchen konnte. Dann zahlte er den vereinbarten Preis und Evert wurde zusammen mit Gero und den beiden Leibeigenen auf einen von Ochsen gezogenen Wagen geladen, wo Evert in sich zusammensank und darum kämpfte, bei Bewusstsein zu bleiben. Der Junge hockte neben ihm, klammerte sich wieder an seine Hand und sah ihn mit großen Augen an.
„Darf ich wirklich bei dir bleiben? Bin ich jetzt dein Knecht?“, flüsterte der Junge an seiner Schulter.
„Du gehörst ab sofort dem Grafen von Berg. Vielleicht kann ich dich in meiner Nähe behalten, aber ich kann es dir nicht versprechen.“
Gero nickte tapfer. „Ich werde dir gut dienen, du bist ein ehrenhafter Ritter“, gab er zurück.
Evert lächelte. Er nahm sich fest vor, den Burschen zu beschützen. Sie hatten immerhin einiges gemeinsam. Beide hatten sie weder Familie noch ein Zuhause. Verloren und wurzellos wie ein ausgerissenes Grasbüschel fühlte Evert sich in diesem Moment. Aber immerhin konnte er sich um Gero kümmern, das war eine Aufgabe, die er ernst nehmen würde. Der Wagen rumpelte gemächlich über den Weg und Evert wusste, dass jetzt sein neues Leben begann. Ob als Leibeigener oder als Knappe und später vielleicht sogar als Ritter, auf jeden Fall war er ab sofort ein Gefolgsmann des Grafen von Berg.

2 Für unseren König

Im Jahre des Herrn 1198 im Juni
in der freien Stadt Aachen

Mit schnellen Schritten hastete Insa durch die Straßen, um den wertvollen Inhalt ihres Korbes schnell und unauffällig zur Stadtmauer zu bringen. Trotz aller Eile musste sie vorsichtig gehen, denn der kurze Sommerregen hatte das Kopfsteinpflaster rutschig gemacht. Die Hitze, die sich zwischen den Häusern staute, war durch den Schauer nur wenig erträglicher geworden und feine Schweißperlen standen auf Insas Stirn. Prunkvolle hohe Häuser mit verzierten Fassaden und spitzen Giebeln fassten am Markt die Straße ein. Je näher sie der Mauer kam, desto niedriger und einfacher wurden die Gebäude jedoch. Sie hielt sich abseits der Jakobstraße, die schnurgerade vom Marktplatz zum Jakobstor verlief, und nutzte lieber die schmalen Gassen zwischen den hohen Häusern. Trotzdem hörte sie dumpf die Geräusche der Schlacht von der anderen Seite der Barbarossamauer.
Es waren nun schon zwei Wochen, seit die welfischen Truppen unter König Otto angerückt waren, und seitdem wurde die Stadt belagert. Immer wieder griffen die Ritter und Fußleute die Mauern an und an manchen Tagen waren die Kampfgeräusche sogar bis zu ihrem Haus am Markt zu hören. Insa konnte den Gedanken an die Abscheulichkeiten, die dort geschahen, kaum noch ertragen. Sie schlief nur noch schlecht und am Tage zuckte sie bei jedem lauten Geräusch zusammen. Das Klirren der Waffen, Wiehern der Pferde und Brüllen der Männer wurde deutlicher, als Insa kurz vor der Mauer angekommen war. Schwach klang zwischen all dem Lärm ein Ruf nach Hilfe und ein eiskalter Schauer fuhr trotz der Hitze über ihren Rücken. Wer auch immer dort rief, ihm würde niemand helfen, er würde sterben. Der Ruf verklang und Insa lehnte sich keuchend an die kühle Mauer eines Hauses. Sie wollte nicht hier sein, wollte das alles nicht hören. Menschen schlugen mit Schwertern und anderen Waffen aufeinander ein, Bogenschützen schossen Pfeile auf die Angreifer, Ehemänner, Väter, Söhne wurden verletzt und starben. Auch Brüder, auch ihr Bruder.
Sie durfte nicht darüber nachdenken und zwang sich mit klopfendem Herzen, auf das Schlachtgetümmel zuzugehen. Viel lieber wäre sie in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, fort von all dem Schmerz und dem Tod, aber das durfte sie nicht.
Von einem Meldejungen hatte sie vor einer Stunde erfahren, dass gerade erneut ein Trupp der welfischen Reiter das Jakobstor angriff. Sie kannte die Stadt und die Tore wie ihre eigene Nähstube und wusste, dass so ein Angriff ein sinnloses und lebensgefährliches Unterfangen war. Die Bogenschützen würden jeden niederstrecken, der sich auf Schussweite näherte. Vielleicht hatten die welfischen Ritter auf einen schnellen Durchbruch gehofft, aber gerade das Jakobstor mit seinem flachen Dach, auf dem die Bogenschützen sogar in doppelter Reihe stehen konnten, bot den Verteidigern die besseren Möglichkeiten.
Ihr Vater hatte die Verteidigungsanlagen des Tores erst vorgestern ausführlich mit ihrem Bruder Thies besprochen und Insa hatte den beiden sehr genau zugehört. Alle männlichen Bürger der Stadt mussten bei der Verteidigung ihren Dienst leisten und waren durch die Schützengilden gut im Gebrauch von Pfeil und Bogen sowie im Werfen von Speeren ausgebildet. Aachen war eine stark befestigte Stadt, die viel auf ihre Freiheit und Unabhängigkeit von den umgebenden Landesfürsten hielt. Natürlich musste eine solche Freiheit zuweilen verteidigt werden, und schon seit Jahrzehnten gab es die Gilden, die sich um diese Dinge kümmerten. Jedes Tor und der dazugehörige Mauerabschnitt hatte eine feste Belegschaft an Schützen, und zu Friedenszeiten gab es freundschaftliche Wettkämpfe, die alle Gildenschützen zu regelmäßigem Training anspornten.
Insas Bruder Thies war einer der Besten der Jakobsgilde und sie war stolz auf ihren Bruder. Zu Friedenszeiten war sie zumindest stolz gewesen. Heute wollte sie nicht darüber nachdenken, wie viele Männer Thies wohl getötet hatte und wie groß die Gefahr für ihn selbst war.
„Schwesterherz, da bist du ja“, begrüßte ihr Bruder sie mit einem erleichterten Seufzer, als sie endlich die verabredete Ecke am Fuße des Tores erreichte. Mit prüfendem Blick sah sie an ihm herab. Er war unverletzt, Gott sei Dank. Zitternd lehnte sie sich an die Hauswand, während er mit gierigen Schlucken eine der Wasserblasen leerte und in das frische Brot biss, das sie mitgebracht hatte.
„Du solltest schnell wieder zurückgehen. Heute ist es schlimm“, brummte er zwischen zwei Bissen. „Und ich danke dir, mein Herz. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich täte.“ Das Brot in der einen Hand und die Wasserblase in der anderen beugte er sich vor, um ihr einen schnellen Kuss auf die Wange zu geben. Dann zog er sie in seine Arme und drückte sie kurz, aber fest an sich.
Insa nickte stumm. Sie wusste genau, was er ohne sie täte. Er würde bis Einbruch der Dunkelheit an der Mauer seinen Schützendienst leisten. Wie die meisten anderen Schützen müsste er das ohne irgendwelche Verpflegung tun, ganz gleich, wie heiß der Tag war und wie trocken die staubige Luft. Viele der anderen Bogenschützen, die auf den Zinnen standen, um die Stadt gegen die heranstürmenden Welfen zu verteidigen, traf es noch härter. Ihr Bruder hatte immerhin noch vor Morgengrauen ein ordentliches Frühstück bekommen. Das war etwas, wovon die ärmeren Männer auf der Mauer nur träumen konnten.
Kein Händler war mehr in die Stadt eingelassen worden, seit König Ottos Heer vor den Toren lag. Die Vorräte gingen zur Neige und trotz Zwangsenteignung sämtlicher Nahrungsmittel war für die Fußtruppen, die die staufischen Ritter in die Stadt mitgebracht hatten, der Hunger ein ständiger Begleiter.
Insa lehnte sich kurz gegen die breite Brust ihres Bruders. Er war fast einen Kopf größer als sie, und seine kräftigen Schultern und seine unerschütterliche Ruhe erschienen ihr wie ein Fels in dem ganzen Kriegsgetümmel.
Ein Krachen ertönte von der Mauer und plötzlich drückte die Angst wieder ihre Kehle zu. Auf der anderen Seite der Mauer wurde das Hufgetrappel lauter und die aus heiseren Kehlen hervorgestoßenen Befehle hektischer.
„Wo ist Vater?“, stieß Insa hervor.
„Beim Befehlshaber.“
Insa schlug die Hand vor den Mund. „Oh Himmel! Das ist doch dieser Walram, der Sohn des Herzogs von Limburg, oder? Was will der Mann von ihm? Steckt er in Schwierigkeiten? Was hat er nun wieder getan? Diese Staufer dürfen ihn nicht …“ Sie redete wieder wie ein Wasserfall, wie so oft, wenn sie Angst hatte und sie hatte große Angst um ihren Vater Sebastjaan, den sie alle kurz Bas nannten. Thies unterbrach ihren Redeschwall.
„Halt, lass mich auch zu Wort kommen“, ihr Bruder grinste. „Es ist alles gut, Schwesterherz. Er muss nur ein Schreiben aufsetzen. Dieser Limburger ist an der Hand verletzt und kann daher nicht selbst schreiben. Sie haben gesagt, Vater wäre auf der Mauer ohnehin nicht zu gebrauchen.“
Insa war überhaupt nicht nach Scherzen zumute, aber ein schmales Lächeln zuckte dennoch um ihren Mund. Ihr Vater war Händler und kein Kämpfer. Zudem war er groß, aber recht hager und zu schwerer körperlicher Arbeit tatsächlich nicht gut zu gebrauchen. Thies wirkte neben ihm wie ein Baum, breit und kräftig gebaut. Mit seinem gewinnenden Lächeln und den hellen Haaren war er der Schwarm aller Mädchen in der Stadt. Er war auf der Mauer sogar sehr gut zu gebrauchen, was ihn in unaussprechliche Gefahr brachte. Insa presste die Lippen zusammen, um all die Worte einzusperren, die schon wieder hinausdrängten. Thies musste hier weg, durfte nicht vom Jakobstor herab auf die Welfen schießen. Etwas würde geschehen, etwas Schlimmes.

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