Die falsche Lady für den Earl
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Taschenbuch falsche Lady

Jede Entscheidung hat ihren Preis – manchmal kostet Sie ein Leben …

Über Gregory kursieren die wildesten Gerüchte, seit er der Londoner Gesellschaft den Rücken gekehrt und sich in die Einsamkeit seines Landhauses zurückgezogen hat. Als den Earl of Stourton ein eindringlicher Brief seiner Mutter erreicht, sieht er sich allerdings gezwungen, in die Hauptstadt zu reisen, um seinen Platz im House of Lords einzunehmen. Aber die Angst begleitet ihn, denn auf seiner Familie scheint ein Fluch zu lasten, der vor Jahren zuerst seiner Ehefrau und dann seinem Vater das Leben gekostet hat.
Lady Alexandra ist bisher davor verschont geblieben, ihre Familie zur Saison in die Hauptstadt zu begleiten. Neben ihrer strahlend schönen Schwester kommt sie sich ohnehin farblos und unbedeutend vor. Dieses Jahr ist allerdings alles anders.
Gespannt sieht sie dem großen Ball entgegen, der für ihre Schwester in London ausgerichtet wird. Bei den Vorbereitungen trifft sie auf einen mysteriösen Adeligen, der ihr Herz höherschlagen lässt. Als sie von einem Komplott gegen den Earl of Stourton erfährt, muss sie eine Entscheidung treffen. Um den Gentleman vor einer Falle zu bewahren, ist sie gezwungen, sich gegen ihre gesamte Familie zu stellen.

Leseprobe von Die falsche Lady für den Earl

Kapitel 1

Royston Manor, nahe London
Oktober 1766

Gregory setzte seine Teetasse ab und erhob sich. Das Schaben der Stuhlbeine klang laut in der Stille des Raums, und auch sein kurzes, scharfes Einatmen war deutlich zu vernehmen, als der wohlbekannte Schmerz in seinen Oberschenkel stach. Dieser sprichwörtliche Stachel in seinem Fleisch würde ihn immer an sein Versagen erinnern. Und das war gut so. Anderes hatte er nicht verdient.
Heute waren es genau zwei Jahre, aber er würde diesen Tag niemals vergessen, und wenn ein ganzes Leben verstreichen würde. In den vergangenen zwei Jahren hatte er die Stille des Landhauses zugleich lieben und fürchten gelernt.
Nachdem er seine Frau nicht hatte retten können, war es seinem Arzt mit all seiner Kunst immerhin gelungen, ihn selbst von der Schwelle des Todes zurück zu reißen.
Beinahe wäre er gestorben, hatten sie damals alle gesagt.
Doch nein, sie hatten keine Ahnung. Er war gestorben, auch wenn er noch immer auf dieser Erde herumlief, als wäre nichts geschehen.
Es hatte Monate gedauert, ehe er überhaupt sein Bett verlassen konnte, und selbst jetzt hatte er noch nicht zu der Kraft und dem Lebenswillen zurückgefunden, den er vor dem Unglück besessen hatte.
Er würde nie mehr derselbe sein wie zuvor.
Gregory Royston, Earl of Stourton wandte sich um und sah hinaus in den grauen, nebelverhangenen Morgen, der auch heute nichts Neues zu bieten hatte. Nichts würde seine Aufmerksamkeit erfordern und nichts würde die Leere durchbrechen, die sich Woche für Woche und Monat für Monat dem grauen Morgennebel gleich in ihm ausbreitete.
Ein leises Klopfen erklang von der Tür. Alles war immer leise. Die drei Bediensteten, die hier alles in Ordnung hielten, bewegten sich lautlos wie Nebelgestalten um ihn herum. Manchmal glaubte er, schreien zu müssen, um überhaupt irgendetwas zu vernehmen.
Es klopfte noch einmal, nun tatsächlich etwas lauter.
„Komm in Gottes Namen herein, Harris“, grummelte Gregory.
„Mylord, ich bitte, die Störung zu verzeihen.“ Sein Butler, Kammerdiener und Bursche für alles blieb bei der Tür stehen und machte keine Anstalten, noch etwas zu sagen.
„Was?“
„Ein Brief, Mylord.“
Gregory drehte sich um und fixierte das polierte Tablett, auf dem ein blütenweißer Umschlag lag. Er unterdrückte den Drang, sofort hinzueilen und das Papier aufzureißen.
„Legen Sie ihn auf den Tisch. Danke Harris“, brachte er mühsam beherrscht hervor.
Von diesem Papier, das so unschuldig und rein dalag, schien eine unaussprechliche Gefahr auszugehen. Er brauchte einen Moment, um diese Regung zu verstehen, aber dann wurde ihm klar, warum. Als er vor einigen Monaten, zehn waren es jetzt genau, zuletzt einen Brief dieser Art erhalten hatte, war er vom Tod seines Vaters unterrichtet worden.
Der Earl war auf dem Weg zu ihm gewesen, als ein Rad an der Kutsche brach. Die Pferde waren durchgegangen und diesen Unfall hatte sein Vater nicht überlebt.
Ein Rad an der Kutsche gebrochen, ein Rad an der Kutsche, echote es in seinem Kopf. Wie damals. Damals, als er und Elanore …
Nein, diesen Gedankengang durfte er nicht weiterverfolgen.
Der Brief lag nun auf dem Tisch und Harris hatte sich zurückgezogen. Betont langsam trat Gregory einen Schritt vor. Er schluckte und als er die Hand hob, um das Papier aufzunehmen, zitterte sie. Auch sein Inneres schien zu zittern, denn im ersten Moment erkannte er die steile und schmale Handschrift nicht. Erst das Siegel bewies, dass der Brief von seiner Mutter, der Dowager Countess Stourton stammen musste. Tatsächlich konnte er sich nicht daran erinnern, die Handschrift der Countess schon einmal gesehen zu haben, denn für gewöhnlich hatte sein Vater die Korrespondenz erledigt.
Was wollte sie?
Mit bebenden Fingern brach er das Siegel und entfaltete den Brief.

Gregory,
seit Dein Vater uns verlassen hat, liegen die Verantwortung und alle mit dem Titel verbundenen Aufgaben bei Dir. Wie bereits mehrfach von Dir
verlangt, musst Du Dich nun endlich um den Fortbestand der Familie kümmern und Dir eine Ehefrau suchen. Obwohl Dein Vater nur deshalb zu Dir auf dem Weg war, um Dich an Deine Verpflichtungen zu erinnern, hast Du bisher nichts getan, um sein Andenken zu ehren und seinem letzten Wunsch zu entsprechen.

An dieser Stelle holte Gregory geräuschvoll Luft. Er hatte vergessen, zu atmen, ließ den Brief sinken und schloss einen Moment die Augen. Natürlich warf sie ihm den Tod seines Vaters vor. Das Schlimmste war, dass sie vollkommen recht hatte. Hätte er sich nicht hier auf dem Land vergraben, anstatt wie verlangt nach London zu kommen, dann wäre das alles nicht geschehen.
Ein weiterer Tod, den er zu verantworten hatte.
Er trat zum Fenstererker und nahm dort an dem kleinen Teetisch Platz. Den Brief breitete er sorgfältig vor sich aus und schloss noch einmal kurz die Augen, ehe er weiterlas.

In Kürze beginnt die Parlamentssaison. Auch der Sitz der Stourtons im House of Lords, den Dein Vater stets hoch ehrte, gehört jetzt Dir. Ihn verwaist zu sehen, hätte er sicher nicht gewollt. Dies alles dürfte Dir bewusst sein, und trotzdem kommst Du Deinen Pflichten nicht nach. Um Dich an Deine Schuldigkeit zu erinnern und Dich endlich dazu zu bewegen, nach London zu kommen, werde ich Dich in der nächsten Woche persönlich aufsuchen. Auch wenn mich eine solche Kutschfahrt sehr anstrengen wird, bleibt mir offenbar keine Wahl, daher erwarte mich am kommenden Donnerstag gegen Abend.
Edna Royston, Dowager Countess Stourton.

Gregory sprang auf und starrte entgeistert auf das Papier. Sie wollte herkommen. Mit der Kutsche.
Er fuhr mit den Fingern in sein viel zu enges Halstuch und zerrte wild daran, dann schüttelte er mehrmals den Kopf, als könne er damit das Unabwendbare verhindern.
Seine Mutter durfte nicht in eine Kutsche steigen. Nicht, um ihn aufzusuchen und ihn nach London zu beordern. Nicht sie auch noch.
Räder von Kutschen brachen – jederzeit.
Mit wenigen Schritten war er bei der Tür.
„Harris!“, brüllte er durch die Halle und er hörte selbst die Panik in seiner Stimme. „Harris, wir reisen nach London, heute noch.“

* * *

Alexandra stellte die Teetasse ab und stand auf. Links und rechts neben ihr räumten zwei eifrige Mädchen das Geschirr ab. Ihr Vater, Viscount Milbourne, hatte den Frühstücksraum bereits verlassen und sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Ihre Mutter Elisabeth und ihre Schwester Viktoria stritten sich viel zu laut und mit wilden Gesten. Jerry, ihr geliebter vierbeiniger Begleiter, kroch währenddessen auf der Suche nach den letzten Krümeln unter dem Tisch herum. Sie selbst wünschte sich weit weg, oder zumindest zwei Wochen in die Zukunft, denn dann würde hier endlich wieder Ruhe eingekehrt sein.
Sie goss sich einen weiteren Tee ein, ehe Maria ihr die Kanne entwenden konnte, und nahm die Tasse mit zum Fenstererker. Draußen lag alles in dicken weißen Nebel gehüllt und die Welt, soweit sie überhaupt sichtbar war, wirkte friedlich und still. So ganz anders als hier innerhalb dieser Mauern, wo die Lady und Viktoria lautstark diskutierten. Jerry hatte nach seinem Beutezug wie immer neben ihr Aufstellung genommen und sie kraulte gedankenverloren das vernarbte Ohr des großen, zotteligen Jagdhundes.
Ihre ungleiche Zwillingsschwester war keineswegs erbost darüber, dass es nun endlich an der Zeit war, nach London zu reisen, und sie beginnen konnte, die Dienstmädchen zum Packen zu scheuchen. Sie war vielmehr darüber verärgert, dass diese Saison ihre Letzte sein sollte. Diese weitreichende Entscheidung hatte sicher der Viscount gefällt. Die undankbare Aufgabe, es Viktoria zu unterbreiten, hatte er allerdings der Lady überlassen.
„Nein, Vikky, wir werden nicht länger kostspielige Ballroben und Tageskleider nach der neuesten Mode bezahlen, wenn nichts davon dazu dient, dass du endlich einen Ehemann findest.“
Lady Milbourne stand auf der einen Seite des Tisches und Vikky ihr gegenüber. Auf Alexandra wirkte es, als stünden zwei Kriegsparteien voreinander, von denen jede versuchte, die andere in die Defensive zu drängen.
„Aber Mutter, ich kann doch nicht den erstbesten dahergelaufenen Kerl heiraten. Immerhin muss ich dann mein restliches Leben mit ihm verbringen“, verteidigte Viktoria sich.
„Mein liebes Kind, es ist ja keineswegs so, dass es dir an Bewerbern mangelt. Ganz im Gegenteil scheint dir halb London zu Füßen zu liegen. Da wird sich doch wohl ein geeigneter Ehemann finden.“
Alexandra sah mit einem schmalen Lächeln zu ihrer Zwillingsschwester hinüber. Die Lady hatte natürlich völlig recht. Viktorias Zartheit, ihr hellblondes Haar und ihr zierlicher Schmollmund schienen die Männer geradezu magisch anzuziehen. Sie genoss es, wenn die jungen Burschen sie verehrten und sich darum rissen, ihr ein Getränk zu bringen, mit ihr zu tanzen oder einfach nur zu plaudern. Sie hatte tatsächlich eine beträchtliche Anzahl von Anträgen erhalten, aber keiner der Herren war ihr gut genug gewesen.
Nun stritt sie bereits seit Beginn des Frühstücks mit ihrer Mutter, und Alexandra wollte eigentlich gar nicht mehr zuhören.
Sie selbst betraf das alles nicht, denn sie würde ja ohnehin nicht mit nach London reisen. Sie blieb jeden Winter hier im Landhaus und freute sich an der Ruhe und den Freiheiten, die sie besaß, wenn die übrige Familie in der Hauptstadt war. Außerdem hatte sie hier wirklich genug zu tun. Sie überwachte die herbstlichen Ausbesserungsarbeiten an allen Gebäuden, sorgte dafür, dass auch bei allen Pächtern in der Umgebung Dächer und Wände dem kommenden Winter trotzen konnten und dass alle genügend Vorräte eingelagert hatten. Schon mehr als einmal hatte sie gegen die Anweisungen des alten Verwalters Masefield gehandelt und Vorräte vom herrschaftlichen Gut an die ärmeren und kinderreichen Pächter verschenkt. Im ersten Jahr hatte der Mann, der schon ihrem Großvater als Verwalter gedient hatte, voller Wut einen Brief an ihren Vater in London geschrieben. Die Antwort war erst Wochen später gekommen. Der Viscount hatte in knappen Worten erklärt, dass er mit derartigen Kleinigkeiten nicht belastet zu werden wünsche und Alexandra schon wisse, was richtig sei. Danach hatte Masefield ihre Eigenmächtigkeiten zähneknirschend ignoriert. Im vergangenen Herbst war er zu ihrem großen Erstaunen sogar zu ihr gekommen und hatte sie gefragt, welche Mengen an Korn und Heu er für ihre Verteilung an die Pächter einplanen solle. Seitdem hatte sich ihr Verhältnis deutlich verbessert.
Viktorias Ausruf riss Alexandra aus ihren Tagträumen.
„Ally, was sagst du denn zu alledem? Du sagst ja gar nichts. Willst du mich nicht unterstützen?“
Vikky lief auf sie zu, als wolle sie sich in Alexandras Arme werfen und Jerry zuckte kurz zusammen, ehe er sich quer vor ihr postierte.
Viktoria stoppte abrupt, als der Hund ihr plötzlich im Weg stand, lamentierte aber in weinerlichem Ton weiter.
„Ist es dir vollkommen egal, wie hier über mein Leben bestimmt wird? Mutter setzt mich unter Druck. So eine Entscheidung will gut überlegt sein. Ich kann doch nicht irgendwen zum Ehemann nehmen. Stell dir vor, er spricht zu sehr dem Alkohol zu oder er ist spielsüchtig oder …“ Vikky schlug die Hand vor den Mund und schluchzte. „… oder er besucht einschlägige Damen, nachdem wir verheiratet sind.“
„Viktoria!“, kam der strenge Ausruf von Lady Milbourne. „Über so etwas solltest du gar nicht Bescheid wissen.“
Vikky wandte sich wieder an ihre Schwester. „Nun sag doch etwas, Ally. Du musst mir helfen.“
„Natürlich nicht den Erstbesten“, versuchte Alexandra es auf diplomatischem Weg. „Aber immerhin bist du schon vierundzwanzig und kannst auch nicht mehr ewig warten. Es wird …“
„Du bist also auf Mutters Seite“, fuhr Vikky ihr mitten in den Satz. „Das habt ihr euch ja wunderbar ausgedacht.“
Ally sah, dass Tränen in ihren Augen schimmerten, ehe sich ihre Zwillingsschwester ruckartig abwandte. Mit einem Aufschluchzen floh sie nach draußen.
Lady Milbourne folgte ihr mit beschwichtigenden Worten.
„Weg sind sie“, stellte Alexandra fest und atmete geräuschvoll aus. Sie sah Jerry, der den Blick zu ihr erhoben hatte, in die dunkelbraunen Augen. „Komm, lass uns auch hier verschwinden und ein wenig nach draußen gehen. Ich habe Lust, durch den Nebel zu wandern.“
Der Hund sprang auf, denn er hatte den auffordernden Ton in ihrer Stimme richtig gedeutet. Gerade wandte sie sich zur Tür, als die Lady wieder hereinkam.
„Du kommst mit.“
„Wohin komme ich mit?“, fragte Ally verwirrt.
Lady Milbourne war bereits in die Halle zurückgegangen und blieb nun irritiert stehen. „Nach London natürlich. Dieses Mal kannst du dich nicht mehr hier verkriechen. Es wird gleich zu Anfang der Saison einen großen Ball in unserem Hause geben und ich brauche dich, um mir bei der Organisation zu helfen.“
„Was? Aber – aber ich kann hier nicht weg“, stotterte Ally völlig überrumpelt. „Ich werde hier gebraucht.“
„Papperlapapp. Wer kann dich hier schon brauchen? Du kommst mit, um deine Schwester und mich zu unterstützen. Natürlich wirst du dich im Hintergrund halten, der Ball ist schließlich für Viktoria. Aber es ist ja ohnehin nicht damit zu rechnen, dass du ihr irgendwelche Verehrer ausspannen wirst.“ Lady Milbourne lachte auf und wedelte mit der Hand, um ihre Worte zu unterstreichen. Dann trat sie näher heran und musterte Alexandra scharf. „Bei näherer Betrachtung bin ich gar nicht sicher, ob du in der Londoner Gesellschaft wirklich als Viktorias Schwester auftreten solltest. Vielleicht ist es besser, wenn du gar nicht groß in Erscheinung trittst.“
Alexandra schluckte. Natürlich war sie Viktoria kein bisschen ähnlich, was bei Zwillingen eigentlich sehr ungewöhnlich war. Sie hatte nicht die zarte Schönheit und die hellblonden, seidigen Locken wie Vikky, sie war nicht einmal ein bisschen hübsch. Alexandra war zu groß, ihre Haut war stets etwas gebräunt und auch ihre Haare hatten eine undefinierbare Farbe zwischen blond und braun. Sie wirkte überhaupt nicht wie eine Lady von Stand. Und natürlich besaß sie nicht ein einziges Kleid, das sich für London eignen würde. Das alles war ihr wohl bewusst, und trotzdem stach es irgendwo in ihrer Mitte, als die Lady es ihr so direkt ins Gesicht sagte.
„Nun schau nicht so unglücklich, du kannst ja nichts dafür, dass du aus gröberem Holz bist. Mit einer ordentlichen Garderobe wirst du vielleicht trotzdem ganz manierlich aussehen.“ Die Lady sah sie noch einmal an und ihre Augen verengten sich kritisch. „Wenn nur irgendjemand diese Haare bändigen könnte, aber das ist wohl aussichtslos. Rasch, komm mit nach oben und lass uns sehen, was wir von Vikkys Kleidern vom Vorjahr noch für dich ändern können. Schließlich soll sich deine Schwester für dich nicht schämen müssen.“ Alexandra nickte deprimiert und folgte der Lady zur Tür. Jerry war bereits vorausgelaufen und wartete schwanzwedelnd in der Halle.
„Das Vieh bleibt hier“, bestimmte Lady Milbourne im Vorbeigehen und zeigte mit einem Finger auf Jerry.
„Aber natürlich, er geht nie mit nach oben.“
„Ich meinte, er kommt nicht mit nach London, auf keinen Fall.“ Sie zog missbilligend die Mundwinkel herunter.
Entsetzt fuhr Alexandra zur Lady herum, die bereits die Treppe hinaufstieg. „Nein. Ohne Jerry werde ich nicht mitkommen. Er ist nach dem Unfall immer noch nicht ganz wiederhergestellt und braucht regelmäßige Betreuung. Außerdem hat Mister Fairfield gesagt, dass er ihn nicht zurücknehmen will. Es ist jetzt mein Hund und er geht dahin, wo ich hingehe.“ Sie erstarrte, von diesem Ausbruch selbst überrascht. Sie hatte sich noch nie auf diese Art gegen eine Anweisung der Lady gestellt und erwartete nun eine gehörige Schimpftirade.
„Alexandra, was sind das für Töne?“, fauchte diese dann auch wie erwartet. „Das ist kein Schoßhund, wie man deutlich sieht.“ Sie starrte Jerry noch immer mit Missfallen an und dieser legte sich unter dem kritischen Blick flach auf den Boden. „Das ist ein Jagdhund, der zu den anderen in den Stall gehört. Ich habe dir nie erlaubt, ihn ins Haus zu bringen. Als du ihn hier angeschleppt hast, musste ich nicht ernsthaft damit rechnen, dass er überhaupt überlebt. Vielleicht wäre das auch besser gewesen.“
Alexandra blutete das Herz. Sie hatte immer gewusst, dass die Lady Jerry nicht mochte, aber in dieser Härte hatte sie das noch nie ausgedrückt. Noch ehe sie etwas entgegnen konnte, redete die Countess weiter.
„Einen Hund, der dumm genug ist, vor eine Kutsche zu laufen und sich von den Pferden überrennen zu lassen, kann man ja wirklich zu nichts gebrauchen. Auch wenn Mister Fairfield ihn nicht wiederhaben will, gehört er dennoch nicht ins Haus. Steck ihn in den Pferdestall, wenn wir nach London fahren.“
Alexandra straffte sich, um den Hund zu verteidigen. „Aber – aber wie kannst du das von mir verlangen? Sein rechtes Hinterbein ist immer noch nicht ganz verheilt und die Stallburschen werden sich niemals richtig um ihn kümmern. Und außerdem – ich brauche ihn einfach bei mir.“ Sie blinzelte heftig gegen die aufsteigenden Tränen an, denn auf keinen Fall durfte die Lady sie weinen sehen. Tränen waren genau die Methode, die Viktoria stets anwandte, um ihren Willen durchzusetzen. Alexandra würde sich dazu niemals herablassen. Sie schluckte hart und hob den Blick zu Lady Milbourne, die bereits oben auf der Treppe stand. „Bitte lass mich ihn mitnehmen.“
„Du weißt, dass du ihn nicht einfach nach draußen schicken kannst, wenn er – na ja, seine Bedürfnisse hat. In der Stadt kann ein Hund nicht frei herumlaufen wie hier. Du wirst dich ganz allein um alles kümmern müssen. Das wäre ja auch noch schöner, dass einer der Angestellten seine Zeit für dieses Vieh verschwenden müsste.“
„Selbstverständlich werde ich das. Du wirst ihn im Haus überhaupt nicht bemerken.“
„Das hoffe ich. Und wehe, er stört mich.“
„Vielen Dank, Mylady. Ich werde alles tun, damit seine Anwesenheit überhaupt nicht auffällt.“ Überglücklich hätte sie am liebsten einen Luftsprung gemacht, aber unter dem strengen Blick vom oberen Treppenabsatz war etwas so Undamenhaftes natürlich völlig ausgeschlossen. Stattdessen wandte sie sich schwungvoll zu Jerry um, der auch gleich aufsprang und trotz des verletzten Beins auf seine ungelenke Art um sie herumtanzte. „Jerry, wir fahren nach London, diese Woche noch.“
„Nun hör schon auf, dich mit dem Tier zu unterhalten, und komm endlich. Ich habe nicht ewig Zeit.“ Die Stimme der Lady war etwas weicher geworden und Alexandra hatte wieder einmal den Verdacht, dass sie den Hund trotz aller harten Worte doch ein wenig mochte, zumindest wenn er sich, wie jetzt gerade, aufführte wie ein Welpe, der er ja eigentlich schon nicht mehr war. „Jawohl Mylady.“
Die förmliche Anrede schien ihr immer noch angebracht, obwohl der Streit ja eigentlich beigelegt war. Nur wenn sie sehr wohlwollend und vertraut miteinander sprachen, was selten vorkam, wagte sie es, Mutter zu Lady Milbourne zu sagen. Sie schien diese Anrede von ihr allerdings nicht gern zu hören, obwohl Vikky sie stets so nannte.
Alexandra eilte hinauf. Jerry blieb vor der unteren Stufe stehen und sah ihr etwas ratlos nach.
„Ich komme gleich zurück“, flüsterte sie in seine Richtung und sofort setzte er sich wie ein Wächter vor die Treppe, bereit, die erforderliche Zeit auf sie zu warten.

Es war unglaublich laut, als alle zu den Türen drängten, und Gregory hätte sein eigenes Wort nicht verstanden, hätte er etwas sagen müssen. Das war allerdings nicht nötig, denn niemand schien auf eine Unterhaltung mit ihm erpicht zu sein. Es war der dritte Tag in Folge, an dem er den Sitzungen im House of Lords beiwohnte, und inzwischen hatte sich herumgesprochen, wer er war. Natürlich war die Ablehnung seiner Person schon vorgestern offensichtlich gewesen, als er vereidigt worden war und den Sitz seines Vaters eingenommen hatte. Aber ein Name allein war ja noch nichts Aufsehenerregendes. So hatten zuerst nur die näheren Bekannten begonnen, zu flüstern und ihren Sitznachbarn die Gerüchte über seine Person zuzuraunen. Es hatte offenbar zwei Tage benötigt, um sich herumzusprechen, aber spätestens heute war sein neuer Spitzname jedem bekannt: Er war der Earl der Unfälle, der seltsamen und ungeklärten tödlichen Unfälle, und tatsächlich hatte er mitbekommen, wie die Herren darüber tuschelten, dass er vielleicht die Hand im Spiel gehabt hätte. Erst die ungeliebte Ehefrau und dann der reiche Vater, den er beerbt hatte. Ein solches Vermögen konnte einen Mann zu den seltsamsten Handlungen verleiten.
Sicher sprach auch Neid auf sein stattliches Erbe aus den Gerüchten und Halbwahrheiten, aber Gregory verbot es sich, irgendetwas von dem Gehörten zu kommentieren. Sollten sie sich doch die Mäuler zerreißen, er war schließlich nicht hier, um neue Freunde zu finden, sondern ausschließlich, weil sein Pflichtgefühl ihn dazu zwang.
Inzwischen war die ausgedehnte Mittagspause des Sitzungstages angebrochen, nach der erfahrungsgemäß höchstens die Hälfte der Lords wieder zurückkehren würde. Gregory hasste diese Undiszipliniertheit, die viele seiner Standesgenossen an den Tag legten, aber wenn er ehrlich mit sich selbst ins Gericht ging, hatte er die Ausübung seiner ererbten Pflichten bisher auch nicht sehr ernst genommen.
In der heutigen Sitzungspause war er mit seinem Bruder und dessen Ehefrau verabredet. Die beiden bewohnten ein kleineres Haus etwas außerhalb und daher hatten sie sich am Berkeley Square verabredet.
Den Teesalon The Pot and Pineapple kannte er schon aus seinen Kindertagen. Seit einigen Jahren war der italienische Patissier Domenico Negri neuer Besitzer des Hauses. Er kreierte die erstaunlichsten Desserts, Kuchen und Eissorten. Gregorys Bruder hatte bei seinem Besuch von Lemoncake und fruchtigen Tartes geschwärmt, sodass er sich darauf ebenso freute wie auf das Treffen mit Anthony und Fiona.
„Hey, Stourton, willst du mitfahren?“
Im Gedränge von Fußgängern und Kutschen, das sich vor dem Ausgang des hohen Hauses gebildet hatte, hörte Gregory den Ruf kaum. Erst als er sich suchend umwandte, sah er seinen alten Freund Martyrius Tremblay-Morten, der ihm von einer der Kutschen aus zuwinkte.
Er trat näher heran, um den Mann zu begrüßen.
„Tremblay. Wir haben uns lange nicht gesehen.“
Der schmale, drahtige Mann mit der großen Hakennase grinste. „Stimmt, und inzwischen bist du Earl und musst dich hier mit rechtlichen Streitereien und Gesetzesvorlagen herumschlagen.“
Gregory seufzte. „Ja das muss ich wohl. Eine ungeliebte Pflicht. Aber dich habe ich bei den Sitzungen nicht gesehen, was machst du hier?“
„Oh, das ist nicht so einfach zu erklären.“ Marty zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Ich habe, wie du weißt, besondere Aufgaben, die mich ab und an in den Westminster führen. Steig ein, dann können wir unterwegs Neuigkeiten austauschen.“
Gregory schüttelte bedauernd den Kopf. „Das kann ich nicht, aber wir sollten uns heute Abend im Club sehen. Es freut mich wirklich, dich wieder mal zu treffen.“
Marty nickte und gab dem Kutscher das Zeichen zum losfahren. „Gut, bis heute Abend dann.“
Gregory ging nachdenklich die Straße hinunter. Das Haus tagte wie üblich in der Queens Chamber im Palast von Westminster, das von seinem Stadthaus in der Bolton Street bei gutem Wetter noch zu Fuß erreichbar war. Wenn im nächsten Monat der Schnee käme, würde er es nicht immer vermeiden können, eine Kutsche zu nehmen.
Es war verrückt, es war unangenehm, es war peinlich, aber seit dem Unfall, der Elanore das Leben gekostet hatte, war es ihm nicht mehr möglich, in einer Kutsche zu fahren.
Die Einladung seines Freundes ließ die Erinnerung an seinen ersten und einzigen Versuch wieder in ihm wachwerden. Er war dem Ruf gefolgt, nach London zu kommen, und es war ein einziges Desaster gewesen. Sein Vater hatte ein schottisches Mädchen zu seiner Braut bestimmt, das dann in der Hauptstadt auf ihn gewartet hatte. Er war nur dazu dorthin gereist, seinem Vater unmissverständlich zu erklären, dass er nie wieder heiraten würde. Sein Versuch, mit der Kutsche zu fahren, war in seiner Erinnerung noch so frisch, als wäre es erst gestern gewesen.

Er stand mit zusammengebissenen Zähnen und rasendem Herzen vor seiner Kutsche, ihm war übel und kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, aber er war wild entschlossen einzusteigen. Schließlich schaffte er es, sich auf den Polstern niederzulassen, den Blick starr aus dem Fenster gerichtet und beide Hände am Sitzpolster festgekrallt.
Dann zogen die Pferde an. Die Bewegung ließ ihn nach hinten in die Polster kippen und erschreckte ihn derart, dass er laut aufschrie. Die Kutsche stoppte sofort, er riss den Kutschenschlag auf und sprang so hastig hinaus, dass er auf den Knien im Kies der Auffahrt landete.
Schließlich hatte er sein Pferd satteln lassen und war nach London geritten.

Es war ihm bis heute ungeheuer peinlich, dass er so überreagiert hatte, aber noch immer schnürte ihm allein der Gedanke an eine Kutschfahrt die Kehle zu.
Am Berkeley Square angekommen, schüttelte er die Erinnerung an die beschämende Episode ab. Er blieb einen Augenblick vor der Tür des Pot and Pineapple stehen und genoss den unverwechselbaren Duft nach Orangen, Tee und süßem Gebäck. Angenehme Düfte hatten stets eine tiefgehende Wirkung auf seine Stimmung, und daher war er schon in erwartungsvoller Vorfreude, als er das Teehaus betrat. Er konnte durch die bodentiefen Fenster gut erkennen, dass nur drei Tische besetzt waren. Anthony und Fiona waren nicht unter den Gästen, würden also noch kommen.
An der Theke war eine schmale, hochgewachsene Dame mit Mister Negri in ein Gespräch vertieft. Der große, zottelige Hund neben ihr schien währenddessen ständig auf die Reste eines Kuchenstücks zu schielen, das am Tisch nebenan noch nicht abgeräumt worden war. Gregory trat ein und das melodische Klingen der Türglocke ließ Mister Negri hochschauen. Auch die Dame wandte sich zu ihm um und der Hund erkannte seine Chance.

* * *

„Ally komm doch bitte mal, ich habe da noch eine Aufgabe für dich.“ Dem Klang nach kam die Lady gerade die Treppe herunter, aber ihre Stimme drang wie immer bis in die letzte Ecke des Hauses.
Alexandra rollte mit den Augen und legte ihr Buch zur Seite. Dann stand sie betont langsam auf und schlich zur Tür. Nicht dass die Lady das überhaupt bemerken würde, aber sie wollte sich einfach aus Protest nicht beeilen. Gerade trat sie aus dem Salon, als Viktoria oben an der Brüstung erschien.
„Mutter, das musst du dir anschauen. Betty hat dieses Kleid völlig ruiniert. Das kann ich unmöglich heute Abend anziehen.“ Vorwurfsvoll wedelte sie mit den Rüschen des pompösen Kleides, das sie mit sich in den Flur geschleift hatte.
„Kind, wir werden schon etwas Anderes finden, jetzt lass mich nur eben mit Ally sprechen.“ Die Lady wandte sich von der Treppe ab und kam auf Alexandra zu.
„Wieso Ally? Kommt die etwa mit?“ Vikkys Tonfall verriet Entsetzen.
„Nein, nein, meine Taube, Ally hat zu tun.“
Alexandra wusste nicht einmal, welche Veranstaltung heute Abend anstand. Dass ihre Teilnahme nicht eingeplant war, stand offenbar völlig außer Frage. Was sie stattdessen zu tun haben würde, war ihr allerdings auch ein Rätsel, denn die meiste Zeit des Tages quälte sie hier in der Stadt abgrundtiefe Langeweile.
„Kind, ich habe das Essen für Vikkys Ball vorgeplant und du musst dich um die Desserts kümmern.“
Alexandra traute ihren Ohren nicht. Sie durfte endlich etwas backen? Es machte ihr immer eine riesige Freude, für den Sonntagstee mit der Köchin wundervolle Kuchenkreationen auszutüfteln und diese dann selbst auszuprobieren. Die Lady hatte das bisher stets untersagt, denn das war selbstverständlich keine Beschäftigung für eine junge Dame. Daher hatte Ally immer nur in der Wintersaison gebacken, wenn die Familie nicht im Landhaus war.
Noch ehe sie ihre Freude zum Ausdruck bringen konnte, redete die Lady allerdings weiter.
„Du wirst diesen berühmten italienischen Patissier aufsuchen. Jeder von Rang und Namen bestellt dort Desserts für große Anlässe, daher bleibt uns natürlich nichts anderes übrig. Du wirst also eine kleine Auswahl, sagen wir vier verschiedene Desserts, aussuchen und bestellen. Dies ist die Adresse.“ Die Lady drückte ihr einen Zettel in die Hand und wandte sich wieder um.
„Ähm, also das soll ich jetzt sofort tun?“, stotterte sie und versuchte krampfhaft, ihre Enttäuschung herunterzuschlucken.
„Aber sicher. Auch wenn bis zum Ball noch Zeit ist, müssen wir uns schon jetzt darum kümmern. Die Desserts von diesem Mister Negri werden ja meist schon Wochen im Voraus bestellt, denn sonst läuft man Gefahr, dass er gar keine Bestellung mehr annimmt. Was erledigt ist, kann auch nicht mehr vergessen werden, also husch, husch“, bestimmte die Lady, die schon wieder auf dem Weg nach oben war.
„Wohin geht ihr denn heute Abend?“ Ally hob in einem plötzlichen Anfall von Trotz das Kinn. „Vielleicht komme ich ja doch mit.“
Die Lady fuhr zu ihr herum. „Auf keinen Fall.“ Dann schien sie sich zu besinnen und setzte ein Lächeln auf. „Liebes Kind, es ist die Geburtstagsfeier unseres Nachbarn. Du würdest dich nur langweilen. Er wird sechzig und es werden sicher nur ältere Leute anwesend sein.“
Vikky erschien mit großen Augen wieder oben auf der Treppe. „Aber Mutter. Mir hast du gesagt, es würde ein riesiges Ereignis mit mindestens zweihundert Gästen werden. Er ist immerhin ein Duke und vielleicht kommt sogar jemand von der königlichen Familie.“ Sie verzog ihren süßen Kussmund zu einer Schnute, die besser zu einem fünfjährigen Mädchen gepasst hätte. „Und mit diesem Kleid kann ich dort nicht erscheinen.“
„Ja, ja.“ Beschwichtigend wedelte die Lady mit der Hand. „Wir kümmern uns ja um das Kleid. Und du gehst jetzt schnell zu diesem Bäcker, Ally.“ Damit eilte sie endgültig die Treppe hinauf und verschwand mit der immer noch lamentierenden Vikky in deren Ankleidezimmer.
Ally wollte keineswegs zu dieser riesigen Geburtstagsparty. Sie war überzeugt, dass sie sich tatsächlich langweilen würde, während sie am Rand stand und all den schönen und vornehmen Menschen beim Feiern zusah. Sie würde sich selbst nur wieder ungelenk, durchschnittlich und altbacken vorkommen und das war die Art von Gefühlen, auf die sie gern verzichten konnte. Trotzdem ärgerte es sie, dass sie nie gefragt wurde, und sie nahm sich fest vor, im Laufe der Woche noch einmal einen Vorstoß zu wagen. Zu irgendeiner Veranstaltung würde sie mitgehen, und wenn es nur aus Protest war, weil niemand sie dabeihaben wollte.
Jerry sah erwartungsvoll zu ihr hoch und schien genau zu wissen, dass sie jetzt etwas unternehmen würden. Alexandra war froh, das Haus endlich verlassen zu können, denn oben stritten sich Vikky und ihre Mutter schon wieder. Oder noch immer? Das Problem mit dem Kleid schien erledigt zu sein, doch jetzt ging es um die unglaublich wichtige Farbe der Blumendekoration beim Ball. Vikkys Ball natürlich. Es würde ganz allein Vikkys Ball sein. Ally hatte sich schon gefragt, ob überhaupt andere Menschen eingeladen würden. Sie grinste in sich hinein. Wahrscheinlich keine anderen jungen und hübschen Frauen.
Es war wirklich schade, aber ihre Schwester hatte sich verändert, seit sie hier waren. Vielleicht war es der übermäßige Druck, der nun auf ihr lastete. Es stand unausgesprochen fest, dass Vikky sich auf dem Ball, ihrem Ball, einen zukünftigen Ehemann suchen und der Rest der Saison dann dafür genutzt werden sollte, die Phase der Brautwerbung und die Verlobungszeit zu zelebrieren. Eigentlich war Ally ganz froh, dass sich niemand für sie interessierte, und vor allem darüber, dass niemand sie in eine Ehe drängen würde. Dass sie aufgrund ihrer mangelnden Schönheit unverheiratet bleiben würde, war zumindest eine Zukunftsperspektive, der sie gelassen entgegensehen konnte.
Sie sah an den Gebäuden hoch, als sie auf die Straße hinaustrat. Seit einer Woche waren sie erst hier, aber bereits jetzt hatte sie genug von London. Nach dem ersten Schreck hatte sie sich eigentlich darauf gefreut, dass sie nun endlich die Hauptstadt kennenlernen durfte. Ihr ging es nicht um die Bälle und die anderen Veranstaltungen. Es war ja schon zuvor klar gewesen, dass sie gesellschaftlich nicht in Erscheinung treten würde.
Ally hatte bei ihrer Vorfreude auf London an die alten und ehrwürdigen Gebäude, den betriebsamen Hafen, den Palast des Monarchen und die Straßen voller eleganter und vornehmer Menschen gedacht.
Von ehrwürdigen alten Gebäuden hatte sie allerdings noch nicht viel gesehen, und an einen Besuch des Hafens oder des Palastes war nicht zu denken. Die Straßen schienen ihr hauptsächlich mit eiligen Fuhrwerken, aufdringlichen Straßenhändlern und bettelnden Kindern bevölkert zu sein. Vornehme Menschen in eleganter Kleidung waren eher selten zu sehen. Sie huschten offenbar nur aus ihren Häusern und verschwanden dann schnell in den wartenden Kutschen. Auf der Straße liefen sie jedenfalls nicht herum. Immerhin lag ihr Haus ganz in der Nähe des St. James Parks, sodass sie bei den täglichen Runden mit Jerry das Grün und die Stille genießen konnte, was sie ein wenig an die Felder und Wiesen zu Hause erinnerte.
Jetzt war sie wieder einmal zu Besorgungen geschickt worden wie eine Dienstmagd, während ihre Schwester sich bereits für den Abend zurechtmachte. Natürlich verpackte die Lady derartige Aufforderungen in schöne Worte, aber trotzdem fühlte es sich an, als behandelte die Familie sie wie eine Küchenmagd.
Beim The Pot and Pineapple angekommen atmete sie zuerst einmal den besonderen Duft des Teesalons ein. Interessanterweise roch es nicht nur nach Tee und Gebäck, sondern auch nach Orangen und Gewürznelken. Sofort begann ihr Kopf ein Rezept für einen Orangenkuchen zu entwickeln, in dem man das Aroma mit einem Hauch Gewürznelke verfeinern könnte. Oder doch eher Orangenshortbread? Ach verflixt, sie musste aufhören, diese Ideen zu spinnen, denn es war überhaupt nicht absehbar, wann sie mal wieder Gelegenheit haben würde, solche Einfälle auszuprobieren.
Mit einem leisen Seufzen trat sie zur Theke und fragte nach Mister Negri, der überraschend freundlich und beflissen reagierte. Nachdem hier offensichtlich die Crème de la Crème der Gesellschaft ihre Desserts bestellte, hatte sie eine herablassende Behandlung erwartet, doch das Gegenteil war der Fall.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich zwischen all den köstlichen Tartes und Cakes entscheiden konnte. Eine der besonderen Eiskreationen sollte es auf jeden Fall auch sein. Mister Negri hatte ihr viele verschiedene kleine Probierstückchen kredenzt und sie hatte einfach die Desserts herausgesucht, die ihr selbst am besten schmeckten. Immerhin hatte die Lady ihr bei der Auswahl der Leckereien freie Hand gelassen. Viktoria mochte alles, was Schokolade und Karamell enthielt, während sie selbst eher für Fruchtiges zu begeistern war. Ein wenig genoss sie ihre kleine Meuterei, als sie Zitroneneis, Lemoncake und Blackberry Crumble auswählte. Sie war noch nicht ganz fertig mit der Bestellung, als die Türglocke einen weiteren Gast ankündigte. Mister Negri sah auf, hielt mitten im Satz inne und ging sofort hocherfreut auf den Neuankömmling zu.
Dergleichen war sie gewohnt, denn sie schien immer im Nebel der Unsichtbarkeit zu verschwinden, sobald eine weitere Person den Raum betrat.
„Lord Royston, was für eine Freude“, begrüßte Mister Negri den Neuankömmling begeistert.
Auch Alexandra wandte sich nun um und betrachtete den vornehm gekleideten Herrn, der soeben eingetreten war. Sie fand ihn äußerst ansehnlich. Sein hellbraunes Haar war, wie es der Mode entsprach, straff zu einem Bourse-Zopf zusammengenommen und die dunkle Kleidung verstärkte die vornehme Blässe seines Gesichts. Um die Augen trug er einen etwas angespannten Zug, als hätte er Schmerzen, hielt sich aber sehr gerade.
„Mister Negri“, grüßte er mit einer angedeuteten Verbeugung. „Mir ist es ebenfalls eine Freude. Dennoch muss ich Ihnen leider sagen, Sie verwechseln mich mit meinem Zwillingsbruder.“
„Oh, merda, wie konnte ich nur, Mylord. Verzeihen Sie, aber Sie sehen sich ja wirklich so unglaublich ähnlich.“
Ally lachte auf. „Oh je, das würde meiner Zwillingsschwester und mir niemals passieren. Wir sind so verschieden wie Tag und Nacht.“
Als der Lord und Mister Negri sich zugleich zu ihr umwandten, wurde ihr die Peinlichkeit ihres vorlauten Einwurfs bewusst.
„Madam, Verzeihung, dass ich Sie nicht begrüßt habe, aber wir wurden noch nicht vorgestellt.“
Der Gentleman nahm ihre Hand und verbeugte sich steif zu einem angedeuteten Handkuss, was ein angenehmes Prickeln über ihre Haut schickte. Auch seine weiche, dunkle Stimme schien sie fast körperlich zu berühren. Ally war überrascht und sehr erfreut, dass er sich ihr gegenüber so höflich verhielt.
„Verzeihen Sie, Mylord, darf ich Ihnen Lady Alexandra Swan vorstellen, die Tochter von Viscount Milbourne. Lady Swan, dies ist …“
Den Rest hörte Ally nicht mehr, denn hinter ihr schepperte es laut und vernehmlich. Erschrocken fuhr sie herum und sah gerade noch, wie ein paar Kuchenkrümel in Jerrys Maul verschwanden, ehe er zerknirscht aufsah und den strategischen Rückzug antrat.
„Himmel, nein!“, entfuhr es ihr, während der Mann neben ihr in lautes Gelächter ausbrach.
„Kein Problem, Mylady, das erledigt Emmy sofort.“ Mit einem Wink gab Mister Negri dem Serviermädchen zu verstehen, dass es sich um das zerbrochene Geschirr kümmern sollte.
Ally war einen Augenblick lang sprachlos vor Entsetzen, hob die Hände in einer entschuldigenden Geste und schüttelte nur den Kopf, während sie Jerry anstarrte. Der Hund legte sich unter ihrem fassungslosen Blick flach auf den Boden und sah mit Unschuldsmiene zu ihr hoch. Das regte den Lord zu noch mehr Gelächter an und sie fuhr zu ihm herum. Inzwischen hatte sie ihre Sprache wiedergefunden.
„Es gibt keinen Grund, über mich zu lachen. Ich werde den Teller bezahlen und Jerry wird selbstverständlich zur Rechenschaft gezogen.“ Nun entlud sich all ihr Ärger über den ungezogenen Hund in die völlig falsche Richtung, bemerkte sie mit Schrecken.
„Nein, bitte nicht“, keuchte der Lord zwischen zwei Lachsalven. „Ziehen sie ihn nicht zur Rechenschaft. Ich komme liebend gern für den Schaden auf, aber geben Sie dem Tier heute Abend bitte einen Extraknochen.“
„Sie machen sich immer noch über mich lustig. Das ist nicht … nicht …“ Sie suchte vergeblich nach dem passenden Wort und biss sich vor unterdrückter Wut auf die Unterlippe. „Sie benehmen sich nicht wie ein Gentleman.“
Der Mann neben ihr wurde ernst und sah sie beinahe so zerknirscht an wie der Hund, was sie gegen ihren Willen zum Lächeln brachte.
„Nichts läge mir ferner, Mylady. Ich wollte Sie auf keinen Fall verärgern, und ich habe ganz bestimmt nicht über Sie gelacht. Es war wirklich nur der Hund, wie er soeben ausgesehen hat, als erwarte er nun das jüngste Gericht. Diese Augen, und wie er sich flach auf den Boden legt, als wolle er in einem Mauseloch verschwinden.“
Er gluckste schon wieder und jetzt lachte Ally ebenfalls auf. „Nicht wahr, das mit dem schuldigen Gesichtsausdruck, das kann er gut? Ich werde die Strafe aussetzen, denke ich, da er uns zum Lachen gebracht hat, aber den Teller bezahle ich selbstverständlich persönlich.“
Er zog die Augenbrauen hoch, als hätte ihre Antwort ihn überrascht. Einen Moment lang sah er sie einfach nur an und sie hatte den Eindruck, er starrte auf ihren Mund. Dass ausgerechnet ihr unvorteilhafter, viel zu großer Mund seine Aufmerksamkeit erregte, war ihr höchst unangenehm. Sie spürte, wie Hitze in ihre Wangen stieg, und wandte sich hastig ab.
Der Lord wechselte Gott sei Dank ohne weitere Diskussion über den Teller das Thema. „Ihre Zwillingsschwester sieht Ihnen also gar nicht ähnlich? Wie ungewöhnlich.“
Als Ally gerade antworten wollte, klingelte die Türglocke erneut und eine ausnehmend schöne, rothaarige Lady trat ein. Ihr folgte das genaue Ebenbild des Mannes, der neben ihr stand. Während die beiden begrüßt wurden, hatte Ally Zeit, sich den anderen Zwilling anzusehen. Die Ähnlichkeit war nur oberflächlich. Wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass dem Neuankömmling der Zug von Schmerz um die Augen herum fehlte. Außerdem wirkte er sehr viel entspannter und gelöster, während dem ersten Zwilling etwas Strenges, fast Steifes anhaftete. Ehe Alexandra sich versah, wurde sie ebenfalls vorgestellt. Lord Royston und seine Gattin begrüßten sie ausgesprochen warmherzig, obwohl sie ja eine völlig Fremde war.
„Möchten Sie sich zum Tee nicht zu uns gesellen, Lady Swan?“, fragte Lady Royston sie spontan.
Ally war völlig überrumpelt. „Ähm, also, ich … Ich möchte ihre familiäre Runde nicht stören.“
„Aber nein, Sie stören überhaupt nicht“, schaltete sich jetzt auch der Mann neben ihr ein, dessen vollen Namen sie noch immer nicht kannte. Die anderen beiden hatten ihn Gregory genannt, aber wie sollte sie ihn ansprechen?
„Bitte machen Sie mir die Freude und nehmen Sie einen Tee mit uns. Natürlich nur, wenn Ihre Zeit es erlaubt.“
Ally war etwas befremdet von seinen Worten. Für diesen eleganten und gutaussehenden Mann, der ja offenbar sogar ein Titelträger war, sollte es eine besondere Freude sein, ausgerechnet mit ihr einen Tee zu nehmen? Schon wieder sprachlos, nickte sie nur und lächelte unsicher.

* * *

Lady Alexandra nahm neben Gregory Platz, während Anthony und Fiona sich ihm gegenüber setzten. Auch wenn diese ungewöhnliche Dame eine völlig Fremde war, gefiel es ihm, mit den beiden nicht allein am Tisch zu sitzen. Es war immer ein seltsames Gefühl, in der Öffentlichkeit zu dritt oder zu fünft zu sein, und stets schien ihm die Rolle der überzähligen Person zuzufallen.
Schon gleich nach seinem Eintreten hatte er Lady Alexandra beinahe angestarrt, denn ihre kaum gebändigten krausen Locken und ihr leicht gebräunter Teint hatten etwas Unkonventionelles, das sie schon auf den ersten Blick von anderen Damen unterschied. Am bemerkenswertesten war allerdings ihr voller Mund, der sich zu dem wundervollsten Lächeln formen konnte. Auch jetzt, als sie Fiona von dem Unglück mit dem Kuchenteller erzählte, erwachte dieses Lächeln wieder auf ihrem Gesicht.
„… und dann ist seine Lordschaft in schreckliches Gelächter ausgebrochen und ich war sehr ungehalten. Dabei wollte ich doch eigentlich mit dem Hund schimpfen und nicht mit einem fremden Gentleman.“ Sie sah ihn jetzt offen und direkt an und ahmte ein wenig den zerknirschten Blick des Hundes nach. „Ich hoffe, Sie können mir meine unbedachten Worte verzeihen.“
Gregory konnte nicht anders, als zurückzulächeln. „Ich habe Ihnen längst verziehen, aber wenn Sie mich jetzt so ansehen, bringen Sie mich direkt wieder furchtbar zum Lachen.“
„Oh je, ich verstehe vollkommen, wenn Sie mich schon wieder auslachen.“ Sie senkte verlegen den Blick und Gregory war nicht sicher, ob sie ihn herausfordern wollte oder ernsthaft glaubte, er würde sich über sie lustig machen.
„Aber ich bitte Sie, das würde ich niemals wagen“, begann er etwas unbeholfen, doch sie wandte den Blick ab, als hätte er sie tatsächlich verletzt. Wie merkwürdig. Vorhin hatte sie ihn für seinen Heiterkeitsausbruch noch streng zur Rede gestellt, und nun wirkte sie, wie eine verschüchterte junge Debütantin. Es war sehr eigenartig, konnte jemand scheu und aufbrausend zugleich sein? Allerdings hatte er selbst vorhin ebenfalls völlig uncharakteristisch reagiert. Er hatte tatsächlich laut gelacht und noch immer spürte er in sich eine gewisse Heiterkeit. Es war sehr ungewohnt. Wann hatte er zuletzt einen Grund zum Lachen gefunden, ganz zu schweigen von einem derartigen Ausbruch an Fröhlichkeit? Er ertappte sich dabei, dass er schon wieder auf ihren Mund starrte, und wünschte sich ungewohnt heftig, die Lady näher kennenzulernen. Da fiel ihm endlich wieder ein, was vorhin im Gespräch beinahe untergegangen war.
„Lady Alexandra, Sie wohnen in der Bolton Street, oder nicht? Wenn ich mich richtig erinnere, ist das Haus von Viscount Milbourne nicht weit von unserem entfernt.“
„Oh ja, es liegt allerdings recht weit hinten, wenn Sie vom Piccadilly kommen. Ihr Haus ist tatsächlich in derselben Straße?“, fragte sie interessiert.
Er nickte, sehr erfreut darüber, dass sie den Themenwechsel offenbar positiv aufnahm. „Gleich ganz vorn, man hat von den oberen Etagen einen sehr schönen Blick auf den Park.“
„Der Park ist wirklich wundervoll“, antwortete sie mit verträumtem Blick. „Ich fühle mich dort früh morgens ein bisschen wie zu Hause. Man ist ganz allein, und ich genieße die Ruhe wirklich, auch wenn die Vögel ihre eigene Art von Lärm machen.“ Sie lachte und streichelte dem Hund zärtlich die zotteligen Ohren.
Fiona beugte sich interessiert vor. „Ach richtig – Viscount Milbourne. Ich hatte gleich das Gefühl, dass ich etwas mit dem Namen verbinde. Dann findet also bei Ihnen übernächste Woche der große Ball statt?“
Lady Alexandra hatte gerade noch etwas sagen wollen, doch Gregory kam es vor, als ob sie einen Herzschlag später nicht nur die Lippen, sondern auch gleich noch sich selbst verschließen würde.
„Hm, ja“, antwortete sie nur noch einsilbig.
Das war sehr eigenartig.
Anthony, dem die Regung offenbar entgangen war, nickte seiner Frau zu, dann wandte er sich an Lady Alexandra. „S-o, dann ist V-iktoria Swan Ihre Schwester, verstehe.“
Fiona grinste, dann fuhr sie mit einem ironischen Unterton fort. „Es heißt, dass Lady Viktoria auf diesem Ball einen Bräutigam auswählen wird. Man darf also gespannt sein.“
Lady Alexandras Miene schien wie eingefroren. Unvermittelt erhob sie sich. „Bitte verzeihen Sie mir, ich habe die Zeit ganz vergessen. Ich fürchte, ich muss Sie schon verlassen.“
Die Herren standen hastig auf und verbeugten sich, um die Lady zu verabschieden. Gregory wollte noch etwas sagen, aber sie war so schnell verschwunden, dass er nicht mehr zu Wort kam.
„Es tut mir leid, dass ich sie verscheucht habe“, betonte Fiona, als die Herren wieder Platz genommen hatten. „Ich konnte ja nicht wissen, dass sie auf ihre Schwester offensichtlich nicht gut zu sprechen ist.“
„Zwillingsschwester“, warf Gregory ein.
Anthony schüttelte den Kopf und wandte sich in Richtung Tür, als könne er die verschwundene Lady dort noch sehen. „W-wirklich? L-ady Viktoria soll eine ausnehmende Schönheit sein, sagt man. Dass sie Z-willinge sein sollen, kann ich kaum glauben.“
„Wenn man dich so hört, könnte man meinen, Lady Alexandra wäre unansehnlich. Ich finde sie tatsächlich äußerst ansprechend.“ Gregory runzelte die Stirn und fragte sich, woher der plötzliche Drang rührte, die Lady vor seinem Bruder zu verteidigen.

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