Wintersonnenherz - Anna und Mark gibt es als
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Taschenbuch Wintersonnenherz

Eine Wintergeschichte voller Schnee, Kaminfeuer, Sturm und Liebe. Zwei vom Schicksal gezeichnete Menschen, denen die Liebe eine zweite Chance gibt.

 Es ist ein regnerischer Dezemberabend, und Anna möchte nichts weiter, als es sich auf ihrem idyllischen Pferdehof gemütlich zu machen. Sie ist dabei, der Stadt zu entfliehen, da stolpert ein Fremder vor ihren Wagen. Anna eilt ihm zu Hilfe und wird von einem intensiven Déjà-vu übermannt. Gibt es etwas in ihrer Vergangenheit, woran sie sich nicht erinnern kann?

 Dem einst unbezwingbaren Anwalt Mark hat ein Verkehrsunfall vor zwei Jahren allen Lebensmut geraubt. Als er erneut vor ein Auto stürzt, glaubt er, die Welt habe sich endgültig gegen ihn verschworen. Ein Blick in Annas lichtblaue Augen wühlt plötzlich tief vergrabene Erinnerungen auf. Woher kennt er sie? Was ist vor zwei Jahren wirklich geschehen? Er ist entschlossen, das Rätsel zu lösen. Doch dann verschwindet sie und ihm bleibt nur die nebelhafte Erinnerung.

Leseprobe von "Wintersonnenherz - Anna & Mark"

Kapitel 1

Ein Knall. Er wurde hart nach vorn geworfen. Sein Gesicht schrammte über den weißen Airbag, und der Gurt riss an seiner Schulter. Gleich darauf wurde er zurück in den Sitz gepresst und knallte mit dem Hinterkopf gegen die Kopfstütze. Er bekam keine Luft und ruderte unkontrolliert mit den Armen. Mit einer Hand erreichte er den Türgriff und zog verzweifelt daran. Kaum hatte er den Gurt gelöst, ließ er sich aus dem Wagen rutschen und richtete sich vorsichtig auf. Alles tat ihm weh, und sein Kopf brummte. Wie durch dichten Nebel erkannte er die Überreste des Autos. Die vordere Hälfte war komplett zerstört, und schlaff hingen die weißen Airbags im Innenraum. Benommen stolperte er zurück, und im nächsten Augenblick wurde sein Körper durch die Luft geschleudert. Seine Beine schienen in Schmerzwolken zu explodieren, als er auf den Asphalt aufschlug. Das Kreischen von Glas und Metall stach in seine Ohren. In einer Reflexbewegung riss er die Arme vor sein Gesicht und krümmte sich zusammen. Dann prallte etwas auf seinen Körper, und das Feuer aus Schmerz breitete sich überall aus. Verzweifelt schnappte er nach Luft und riss die Augen auf. Er sah Blut, das stoßweise aus seinem Arm spritzte. Sterben. Jetzt werde ich sterben, schoss es durch seinen Kopf, während Schwärze sich vom Rand seines Sichtfelds in sein Bewusstsein schob und den Schmerz nach und nach auslöschte.

„Mark! Zeit, Schluss zu machen!“
    Er fuhr hoch, als die Stimme seines Kanzleipartners durch den Flur hallte. Nun suchte dieser verdammte Unfall ihn sogar schon als Tagtraum heim. Verbittert presste er die Lippen zusammen und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Ein Video, aufgenommen von der neuesten Hochgeschwindigkeitskamera, deren Lieferverträge er juristisch prüfte, flackerte in Dauerschleife über seinen Bildschirm. Es zeigte einen Crashtest. Würden solche Bilder jetzt jedes Mal den schlimmsten Augenblick seines Lebens ans Tageslicht zerren?
     „Hey, was ist los? Klapp die Akten zu, es ist Wochenende. Überstunden kannst du unter der Woche machen.“ Karl steckte den Kopf durch die Tür und nickte auffordernd zum Ausgang. Mark wusste, dass sein Freund es gut meinte, trotzdem nervte ihn die Geste. Noch zittrig von der Erinnerung beendete er dennoch das Video und löste den Laptop aus der Dockingstation. Dann packte er ihn zusammen mit den Akten in den Rucksack. Er strich abwesend mit der Hand über seinen Vollbart, der einen Teil der Narben verbarg, ehe er die Krücken nahm und Karl in den Flur folgte. Während Karl sich freundlich von Frau Seegers am Empfang verabschiedete, nickte Mark nur mit mürrischer Miene in ihre Richtung. Sie schien keinen freundlicheren Abschied erwartet zu haben.
    „Bis Montag, ein schönes Wochenende Ihnen beiden“, flötete sie. „Ich schließ gleich ab, gehen Sie ruhig schon.“
    Mark folgte Karl zum Aufzug und fragte sich wieder einmal, woher sie stets diese unerschütterliche Freundlichkeit nahm.

* * *

Auf dem nassen Asphalt spiegelten sich die Straßenlampen und die rote Ampel wie Irrlichter. Annas gedankenverlorener Blick hing an dem Film des Nieselregens auf der Frontscheibe. Der Scheibenwischer schob die Tropfen träge beiseite, und im Radio sang Adele passenderweise „Set Fire to the Rain“. Anna legte den Kopf zurück und ließ die Hände auf den unteren Rand des Lenkrads rutschen, während ihr Knie zum Takt der Musik wippte. In Gedanken war sie bereits zwei Stunden weiter, bei der Verabredung von heute Abend.
    Menschen mit Schirmen oder in Regenjacken hasteten durch den späten Nachmittag. Eine schwarze Wolkenwand schob sich stetig weiter vor und verdeckte bereits das Abendrot. Selbst jetzt, im Januar, war es um diese Uhrzeit normalerweise noch nicht so dunkel. Im Gegensatz zu den Leuten, die mit eingezogenen Köpfen eilig vor dem Regen flüchteten, stand eine Gruppe junger Burschen lässig auf dem Gehweg und flachste herum. Sie schubsten sich gegenseitig albern hin und her. Anna konnte verschiedene Stimmen hören, die leicht angetrunken grölten.
    Ein großer, in einen dunklen Mantel gekleideter Mann erschien neben ihrem Auto. Auf zwei Krücken gestützt ging er vorbei und auf die Burschen zu. Sein Rucksack schien auf eine seltsame Art nicht zu der formellen Kleidung zu passen, und Annas Augen blieben automatisch an der ungewöhnlichen Gestalt hängen, bevor ihre Gedanken wieder nach Hause wanderten. Sie stellte sich das wohlige Gefühl einer heißen Dusche vor. Danach musste sie sich ein nettes, nicht zu ausgefallenes Outfit für heute Abend ausdenken.
    Jemand hupte plötzlich, und sie fuhr zusammen. Ihr Blick flog zur Ampel. Grün. Automatisch gab ihr Fuß Gas, und ihr roter Wagen setzte sich in Bewegung. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete, schoss die Szene vor ihr wie ein Blitz in ihren Kopf.
    Der große Mann mit dem Rucksack wollte sich gerade am Bordsteinrand an den Jungs vorbeischieben, als er mit einer Krücke jenseits des Bordsteins ins Leere stach und in zeitlupenartiger Langsamkeit Richtung Fahrbahn kippte. Eine Schrecksekunde später stand ihr Auto schon wieder, doch sein Körper polterte auf ihre Motorhaube und rutschte augenblicklich nach vorn herunter.
    Anna starrte paralysiert durch die Scheibe. Der Wischer schob wieder den nassen Film hin und her, doch von dem Mann war keine Spur mehr zu sehen. Sie spürte ihren Herzschlag in der Kehle, und ihre Hände hätten gezittert, wären sie nicht um das Lenkrad gekrampft gewesen. Das Geräusch, das sein Körper auf der Motorhaube verursacht hatte, ließ ihren Atem stocken. Es fühlte sich an wie eine alte Erinnerung, die irgendwo aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins aufsteigen und ihr die Kehle zudrücken wollte. Träge schob sich der Wischer noch einmal über die Scheibe.
    Ihr Gehirn war noch mit dem Geräusch und der nebligen Erinnerung beschäftigt, als ihr Körper reagierte und sich wie von selbst in Bewegung setzte. Ihre Hände drückten den Warnblinkknopf, drehten den Zündschlüssel, zogen die Handbremse, öffneten die Tür. Ihre Füße sprangen aus dem Auto und liefen nach vorn. Gleichzeitig grübelte ihr Verstand noch immer darüber nach, warum allein das dumpfe Geräusch des Aufpralls ihr die Luft zum Atmen nahm – bis sein Anblick sie zurück in die Realität riss.
    Er lag lang ausgestreckt, mit geschlossenen Augen und viel zu still, im Licht der Scheinwerfer, und der Nieselregen bildete feine Tropfen auf seinem blassen Gesicht. Warum rührte er sich nicht? Sofort fiel sie neben ihm auf die Knie und streckte ihre Hand zu seinem Hals. Unter ihren Fingern spürte sie seine warme Haut und das leichte Flattern des Pulses, flach, aber regelmäßig. Puh, Gott sei Dank. Sie erlaubte sich auszuatmen. Durch den dunklen Vollbart und die ungeordneten, nach vorn gefallenen Locken konnte sie nur wenig von seinem Gesicht erkennen. Vorsichtig strich sie mit der anderen Hand die wilden Haare zur Seite und sah in ein kantiges, von feinen, kaum sichtbaren Narbenlinien durchzogenes Gesicht.
    Glassplitter, schoss es plötzlich durch ihren Kopf, doch sofort schob sie den Gedanken beiseite. Das war jetzt nicht wichtig, und woher wollte sie das überhaupt wissen? Viel wichtiger war die Frage, warum er bewusstlos war. Konnte er so heftig mit dem Hinterkopf auf den Asphalt aufgeschlagen sein?
    Sie holte tief Luft und legte fest die Hände aneinander, um das Zittern zu beruhigen. Alle Energie und Ruhe versuchte sie zu sammeln, dann beugte sie sich langsam nach vorn. Ihre Finger tasteten sich vom Nacken hinauf über seinen Hinterkopf, um nach einer Verletzung zu suchen, ohne den Kopf zu viel zu bewegen. Das seltsame Gefühl, als seine weichen Haare über ihre klammen Finger strichen, ließ sie schlucken. Da war nichts, kein Blut, die Kopfhaut war unverletzt. Nur die Rückseiten ihrer Hände wurden vom Regenwasser auf dem Asphalt nass, während sie seinen Kopf vorsichtig in beiden Händen hielt.
    Plötzlich bebte sein Körper, und ein leises Stöhnen kam über seine Lippen. Als er die Lider aufschlug, und der Blick seiner braunen Augen sie traf, durchfuhr es sie wie ein Blitz. Eine Erinnerung zuckte durch ihren Kopf.
    Sie saß auf dem Boden, sein Kopf auf ihren Beinen, und diese Augen sahen sie an. Überall war Blut. Sie musste irgendetwas drücken und festhalten, das war wichtig.
    Ihr Körper fror mitten in der Bewegung ein, während sie seinen Kopf noch immer in beiden Händen hielt. So ein unglaubliches Déjà-vu hatte sie noch nie erlebt. Mit einem leisen Keuchen schloss sie die Augen und versuchte, das Jetzt von dem Déjà-vu zu trennen. Dann holte sie Luft und zwang sich zu einem Lächeln.
    „Hi, alles in Ordnung mit Ihnen?“ Langsam zog sie die Finger aus den dunklen Locken und ließ seinen Kopf auf den Asphalt sinken.
    Er sah sie mit zu Stein erstarrter Miene an, ohne sich zu rühren, und Anna begann sich zu fragen, ob sein Bewusstsein tatsächlich zurückgekehrt war, oder ob er nur die Augen geöffnet hatte. Mit zwei Fingern strich sie eine nasse Strähne aus seinem Gesicht, um zu sehen, ob er überhaupt reagierte. Blinzelnd schloss er die Lider und atmete tief ein.
    „Ok, bitte bewegen Sie sich nicht“, wies Anna ihn an. „Haben Sie irgendwo Schmerzen?“
    Kaum merklich schüttelte er den Kopf, dann blickte er zu ihr auf. Bernsteinfarbene Augen mit kleinen goldenen Sprenkeln starrten sie unverwandt an. Diese Augen kannte sie. Die hatten sie schon einmal so angesehen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, und sie hatte plötzlich den Wunsch, ihn wieder zu berühren. Sofort wandte sie sich ab, um dieses seltsame Gefühl zu verscheuchen.
    „Bleiben Sie einfach still liegen“, trug sie ihm auf. „Ich werde einen Krankenwagen rufen.“ Sie fingerte in der Hosentasche nach ihrem Handy, aber auf einmal packte der Fremde ihren Arm. Seine Miene war weiterhin undurchdringlich, doch der Ausdruck in seinen Augen glich einem Gewitter.
    „Nein!“ Er stützte die andere Hand auf den Boden und versuchte unbeholfen, sich aufzusetzen. „Nein, nicht ins Krankenhaus, es geht schon“, brummte er, ohne seinen Blick von ihrem Gesicht zu lösen.
    Sie schluckte und versuchte vergeblich, den Griff an ihrem Arm zu ignorieren. Ihr Herz raste schon wieder, und der Drang, sich sofort loszureißen, war auf einmal übermächtig. Er durfte sie nicht festhalten, niemand durfte sie festhalten. Stockend atmete sie ein und zwang sich zu einem verbindlichen Lächeln.
    „Bitte lassen Sie mich los“, flüsterte sie so leise und zittrig, dass sie sich fragte, ob er sie überhaupt gehört hatte, doch sofort löste er seine Finger und murmelte eine Entschuldigung. Noch einmal atmete sie tief durch und verschloss diese seltsame Beklemmung wieder tief in ihrem Inneren. Ganz ohne ihr Zutun legte sich ihre Hand auf seine Schulter, als ob sie durch die Berührung erneut eine Verbindung herstellen müsste.
    „Sie sind recht heftig auf mein Auto geschlagen, und sie waren kurz bewusstlos. Es sollte sich wirklich ein Arzt ansehen, ob alles in Ordnung ist“, wandte sie ein, doch er schüttelte nur energisch den Kopf. Diese Bewegung war wohl schon zu viel, denn im nächsten Augenblick stöhnte er auf und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Erschöpft ließ er sich gegen die Stoßstange ihres Autos sinken. Sein leichter Wollmantel hatte sich schon völlig mit Regenwasser vollgesogen, und inzwischen zitterte er am ganzen Körper. Ohne nachzudenken, zog sie ihre Jacke aus und legte sie um seine Schultern.
    Wieder schüttelte er den Kopf und flüsterte kratzig: „Nicht ins Krankenhaus, das ist nicht nötig.“ Als er tief Luft holte, musste er plötzlich husten. Schnell lockerte Anna seine Krawatte und öffnete die oberen beiden Knöpfe seines Hemdes. Ganz leicht und vorsichtig legte er seine Hand auf ihre und hielt sie an seiner Brust fest, während er sie mit diesem gewittrigen Blick ansah, der sie wieder an irgendetwas erinnerte.
    Inzwischen war aus dem Nieseln ein ausgewachsener eiskalter Winterregen geworden. Nach wenigen Augenblicken hatte das Wasser ihren Pulli und das T-Shirt durchnässt und ihre Haut erreicht. Doch sie musste sich um Wichtigeres kümmern. Er musste ins Krankenhaus, über alles andere konnte sie später nachdenken.
    Plötzlich zuckte Blaulicht über die Straße. Alarmiert sah Anna hoch und wurde sofort vom Scheinwerfer des Krankenwagens geblendet. Inzwischen zitterte auch sie am ganzen Körper, aber der kalte Regen war nicht der einzige Grund. Verwirrt sah sie sich um und bemerkte, dass die jungen Burschen und noch einige weitere Passanten um sie und den Fremden herumstanden. Offensichtlich hatte einer von ihnen schnell reagiert und sofort einen Krankenwagen gerufen. Sie hörte die Sanitäter aus dem Wagen springen und auf sie zueilen. Einer beugte sich zu Anna vor und sprach sie an: „Treten Sie bitte zur Seite.“
    Sie wandte sich zu dem Fremden um und bemerkte, dass ihre Hand noch immer auf seiner Brust lag, doch als sie sie wegziehen wollte, festigte sich sein Griff.
    „Warten Sie. Ich muss Sie noch etwas fragen. Gehen Sie nicht weg, bitte.“ Seine Stimme war tief und rau.
    „Nein, nein, ich bin direkt hier, ich gehe nicht weg.“ Sie löste ihre Finger aus seinen und stand auf. Ihre Knie fühlten sich an wie Pudding, während sie zwei Schritte zurücktrat, um den Sanitätern Platz zu machen.
    Steif verschränkte sie die Arme vor der Brust, um ihren bebenden Händen Halt zu geben, und fixierte den nassen Asphalt vor sich. Einatmen, ausatmen, sie musste sich beruhigen. Mein Gott. Solch ein Gefühlschaos hatte sie noch nie erlebt. Woher kamen nur diese Bilder in ihrem Kopf? Noch immer raste ihr Herz, und sie konnte das schnelle Hämmern in der Kehle spüren.
    Ein Räuspern ertönte hinter ihr, und als sie sich umsah, erschrak sie fast vor dem Polizisten. Er war mindestens einen Kopf größer als sie, sodass sie zu ihm aufschauen musste.
    „Sind Sie die Fahrerin dieses Wagens?“, fragte er.
    „Ja, das bin ich“, antwortete sie mit tonloser Stimme und sackte ein wenig in sich zusammen. Ihr war klar, dass sie jetzt erst mal eine Menge Fragen beantworten musste. Im Gesicht des Beamten flackerte Besorgnis auf.
    „Vielleicht möchten Sie sich erst einmal in Ihren Wagen setzen, ich brauche ja dann auch die Papiere.“
    Anna nickte nur und ging um die beiden Sanitäter herum, die noch dabei waren, den Fremden zu untersuchen. An der weit offenen Fahrertür angekommen, ließ sie sich erschöpft auf den Sitz fallen. Kalt drang die Nässe aus der Polsterung durch ihre Jeans. Der Fahrersitz war inzwischen schon genauso durchgeweicht wie ihr Pulli. Mit steifen Fingern zog sie ihre Geldbörse aus der Handtasche und gab dem Polizisten Führerschein und Fahrzeugschein. Als sie aufsah, fiel ihr Blick durch die Frontscheibe auf den Fremden. Er wurde inzwischen auf der Trage Richtung Krankenwagen geschoben.
    Er schien zu spüren, dass sie ihn beobachtete, und versuchte aufzustehen, doch die Bänder hielten ihn fest. Der durchdringende Blick aus seinen braunen Augen brannte sich in ihr Bewusstsein. Das war nicht das normale Gefühl von jemandem, den man schon einmal irgendwo gesehen hat. Das war aus irgendeinem Grund wichtiger. Der Gedanke an das Déjà-vu von vorhin ließ sie wieder den Kopf schütteln. Was war da passiert? Woher kam dieses seltsame Gefühl und woher kannte sie ihn? Immer noch stand dieses Bild von seinem blutigen Gesicht und dem dringenden Bedürfnis, irgendetwas festzuhalten, scharf in ihrem Kopf. Sie versuchte, sich an weitere Einzelheiten zu erinnern, aber da war nichts. Nichts außer diesen Augen.
    Schon schob der Sanitäter die Trage zur Rückseite des Krankenwagens, und sie fixierte abwesend ihr Lenkrad. Der Polizist berührte sie leicht an der Schulter, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Offensichtlich hatte er sie bereits mehrmals angesprochen.
    „Frau Hofmeister, hier, Ihre Papiere zurück.“

* * *

Die Türen schlossen sich mit einem Knall, und Mark zuckte zusammen, als hätten sie ihm vor den Kopf geschlagen. Er lag auf der Trage und starrte gegen das Wagendach. Noch immer konnte er nicht ganz verstehen, was da gerade passiert war.
    Er war von der Bordsteinkante gestolpert, auf ihr Auto gefallen und dann irgendwo mit dem Kopf aufgeschlagen. So weit war das noch klar. Aber danach kam ihm alles irreal und seltsam vor. Die sanfte Berührung ihrer Hand hatte ihn halb aus der Bewusstlosigkeit geholt, aber er war nicht fähig gewesen, die Augen zu öffnen. Ihre Finger hatte er gespürt, wie sie sich zart und vorsichtig über seinen Nacken zum Hinterkopf vorgetastet hatten, bis sein Kopf in ihren Händen ruhte. Einem Stromschlag gleich waren so viel Wärme und Energie durch seinen Körper geschossen, dass es ihn für einen Moment zurück in die Realität gezogen hatte. Der Blick in ihren lichtblauen Augen war ebenso weich und forschend gewesen wie ihre Berührung, und kurz war es ihm vorgekommen, als hätte sie etwas an ihm erkannt. Als ihre Hand wieder sein Gesicht berührt hatte, war ihm fast schwindelig geworden von einer längst vergessenen Erinnerung.
    Aber so sehr er sich auch anstrengte, er bekam sie nicht zu fassen. Ein unbestimmtes Gefühl wie ein feiner Dunstschleier war alles, was ihm von dieser Begegnung blieb. Schwer atmete er ein, sein Brustkorb noch immer verkrampft vom harten Aufprall auf dem Asphalt. Er wollte nicht ins Krankenhaus, er war ja noch nicht einmal verletzt. Er wollte mit ihr sprechen, erfahren, wer sie war und ob sie sich vorher bereits getroffen hatten. Doch stattdessen war er wieder einmal gefangen. Frust stieg in Mark auf. Er hatte schon viel zu viel Lebenszeit in diesem Krankenhaus verschwendet.
    Wochenlang hatte er nach dem Unfall vor zwei Jahren auf der Intensivstation gelegen, während die Ärzte um sein Leben gekämpft hatten. Der Scherbenhaufen, der einmal sein Leben gewesen war, hatte nach der Reha auf ihn gewartet. Seine Frau hatte die Scheidung ja schon kurz vorher amtlich gemacht. Während er im Koma gelegen hatte, war sie dann ausgezogen. Die große Wohnung war kalt und leer. Es war niemand mehr da, er war allein, und die Stille dröhnte in seinen Ohren. Die vielen roten Narben in seinem Gesicht waren bereits so weit verblasst, dass man sie nur noch aus nächster Nähe sehen konnte, aber die kaputten Beine machten ohne weitere Physiotherapie kaum noch Fortschritte.
    Seine Partner in der Anwaltskanzlei hatten ihn zuerst vom Arbeiten abhalten wollen. Vor allem Karl Wolf, der ihm seit dem Studium ein guter Freund war, hatte versucht, vernünftig mit ihm zu reden. Mark wäre vor dem Unfall ohnehin kurz vor einem Burnout gewesen, jetzt sollte er sich erst einmal um seine Gesundheit kümmern. Aber was konnte er schon mit den endlosen Tagen anfangen? Die Arbeit war schließlich das Einzige, was noch geblieben war. Schon vor dem Unfall hatte er nicht wirklich viel Privatleben gehabt.     Immerhin hatte er sich auch heute wieder Arbeit mitgenommen, um wenigstens einen Teil des Wochenendes nicht damit zu verbringen, sinnlos aus dem Fenster zu starren. Zumindest ein Plan, die freie Zeit erträglich zu machen. Und dann …
    Schon lange war er nicht mehr draußen gewesen. Gewöhnlich fuhr er von seiner Wohnung mit dem Aufzug in die Tiefgarage und von dort mit seinem Auto in die des Bürokomplexes. Auch hier hatte er einen reservierten Platz direkt neben dem Aufzug.
    Heute war das Parkhaus wegen Renovierungsarbeiten gesperrt gewesen. So hatte er sich ein paar Straßen weiter einen Parkplatz suchen müssen. Bitter hatte er das Gesicht verzogen. Dann war unter seiner Krücke plötzlich der Boden verschwunden, und obwohl er genau erkannte, dass er auf die Straße fallen würde, hatte er keine Chance gehabt, es zu verhindern. Diese Beine taten einfach nicht, was sie sollten. Das war ja auch kein Wunder, wenn man bedachte, dass nur groteske verbogene Stöcke von ihnen übrig geblieben waren. Im Grunde war es ja Glück gewesen, das er zuerst auf ihrer Motorhaube gelandet war, das hatte seinen Sturz ein wenig abgefangen.
    Plötzlich waren seine Gedanken wieder bei den lichtblauen Augen und den warmen Händen. Ihre langen hellen Locken waren nach vorn gefallen, als sie sich über ihn beugte. Dadurch war ihr Gesicht im Schatten gewesen, als er auf der Straße lag. Aber dann, als die Sanitäter kamen und sie aufgestanden war, hatte er sie richtig ansehen können. Ein schmales Gesicht, helle Haut und ein paar Sommersprossen. Und diese Augen, strahlend blau mit einem feinen dunkleren Rand. Er war jetzt sicher, dass er diese Augen kannte, irgendwoher.
    Er spürte, dass sein Brustkorb wieder entspannter war als nach dem harten Aufprall auf die Straße, und er sog erleichtert den zarten blumigen Duft ein. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er sein Gesicht in ihre Jacke drückte. Verwirrt sah er auf den feuchten Stoff, den er umschlungen hielt, als wollte er sich daran festhalten. Woher hatte er ihre Jacke? Einen verrückten Augenblick lang wünsche er sich, sie würde noch darin stecken, und er könnte sie in den Arm nehmen. Er erinnerte sich an ihre Berührung, und eine seltsame Schwere machte sich in seiner Brust breit. Er kannte noch nicht einmal ihren Namen und würde sie sicherlich nicht wiedersehen. So konnte er ihr auch die Jacke nicht zurückgeben.
    Der Krankenwagen kam zum Stehen und die Trage wurde hinausgeschoben. Nein, er wollte nicht ins Krankenhaus, hier musste er so schnell wie möglich wieder weg. Erschöpft schloss er die Augen und wühlte beide Hände tief in die warme hellbraune Jacke.

* * *

Anna stand inzwischen mit dem baumlangen Polizisten unter dem Vordach eines Geschäfts und starrte vor sich auf den Gehweg. Er hatte ihr vorgeschlagen, dass sie zuerst nach Hause fahren und sich trockene Sachen anziehen könne. Die Befragung könnten sie auch später auf der Wache erledigen. Dass sie abgelehnt hatte, weil sie möglichst schnell zu ihrer Verabredung kommen wollte, bereute sie jetzt. Eiskalt klebte ihre Kleidung am Körper, und sie zitterte so sehr, dass ihre Zähne klapperten.
    Alle Fragen beantwortete sie wahrheitsgemäß, aber langsam wurde sie ungeduldig. Nachdem sie bestätigt hatte, für weitere Frage jederzeit zur Verfügung zu stehen, ließ der Polizist sie endlich allein. Sie seufzte auf und ging die wenigen Schritte zu ihrem Auto hinüber, wo sie auf dem Fahrersitz in sich zusammensank.
    In was war sie da nur hineingeraten? Wer war dieser Mann, und warum gingen seine Augen ihr nicht mehr aus dem Kopf? Erschöpft stand sie auf und tappte noch einmal nach vorn, um die Stelle anzusehen, wo er gelegen hatte. Sie musste sich plötzlich an der Motorhaube festhalten, als ihr klar wurde, wie knapp das vorhin an einem schlimmen Unfall vorbeigeschrammt war. Sie war unkonzentriert gewesen, beinahe hätte sie jemanden ernsthaft verletzt.
    Ihr Blick fiel auf seine Krücken, die halb unter ihrem Auto lagen. Schnell bückte sie sich und hob sie auf. Ihre Finger waren völlig steif, so sehr hatte sie die ganze Zeit über ihre Fäuste zusammengeballt. Ratlos stand sie einen Moment da. Ihr Kopf war völlig leer, und sie wusste nicht mehr, was als Nächstes zu tun war. Dann sah sie wieder auf die Krücken in ihrer Hand und setzte sich automatisch in Bewegung. Diese Dinger brauchte er doch, sie musste damit zum Krankenhaus fahren. Doch zunächst musste sie nach Hause und aus den nassen Sachen raus. Wie viel Zeit hatte dieser Vorfall sie nun schon gekostet? Konnte sie es überhaupt noch pünktlich zu ihrem Date mit Steve schaffen?
    Zurück im Auto drehte sie langsam den Zündschlüssel und schaltete Heizung und Gebläse auf volle Kraft. Kalter Wind blies in ihr Gesicht. Das würde hoffentlich schnell warm werden, wenn sie erst einmal Gas geben konnte. Aber dann starrte sie minutenlang auf die Straße vor sich, unfähig loszufahren.
    Jemand klopfte an die Seitenscheibe. Ihr Blick flog hoch, und sie zuckte zusammen, als sie ein Gesicht direkt hinter dem Glas sah. Es war der Polizist von vorhin. Erleichtert stieß sie den Atem aus und ließ das Fenster herunter.
    „Alles in Ordnung?“, fragte er. „Soll ich ihnen lieber ein Taxi rufen?“
    „Nein, nein, es geht schon, danke.“ Konzentriert richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn und hörte noch ein zweifelndes Brummen, bevor der riesige Mann einen Schritt zurücktrat. Sie umklammerte das Lenkrad und fuhr vorsichtig an. Schon nach wenigen Metern funktionierte der Automatismus des Autofahrens wieder, und sie konnte sich etwas entspannen.

Seit drei Wochen trafen sie und Steve sich regelmäßig, und sie mochte ihn gern. Trotzdem konnte sie sich noch nicht an den Gedanken einer festen Partnerschaft gewöhnen. Zu viel war in ihrem Leben bereits passiert, als dass sie ihre Freiheit so einfach wieder aufgeben würde. Steve wollte mehr als nur eine unverbindliche Freundschaft, so viel hatte er bereits durchblicken lassen. Irgendetwas Besonderes hatte er für heute Abend geplant, bisher aber nur vage Andeutungen gemacht. Auf jeden Fall musste sie sich beeilen, wenn sie noch duschen und sich für den Anlass ein wenig in Schale werfen wollte.
    Während ihre Gedanken noch um Steve kreisten, hatte sie die Stadt verlassen und konnte schon kurz darauf am Ende der langen Einfahrt zwischen den Wiesen ihren kleinen Hof erkennen. Die Pferde schauten aus ihrem Unterstand zum Weg herüber, blieben aber bei dem kalten Regen im Schutz des Daches, als ihr Wagen sich näherte. Rasch fuhr sie an dem niedrigen Stallgebäude und der großen Scheune vorbei in den Innenhof. Direkt vor der Haustür parkte sie, stieg hastig aus und suchte mit bebenden Händen nach dem Schlüssel. Trotz der Heizung im Auto hatte sie das Gefühl, nie wieder richtig warm zu werden, und mit den steifen Fingern schaffte sie es kaum, die Tür aufzuschließen. Als sie endlich im Haus war, schlüpfte sie direkt aus den Schuhen und lief eilig ins Bad.
    Nach einer heißen Dusche stand sie unschlüssig vor dem Kleiderschrank. Für endlose Überlegungen war jetzt keine Zeit mehr. Eilig griff sie nach einem Winterkleid mit langen Ärmeln. Sie mochte es gern, denn das blauschwarze Muster betonte die Farbe ihrer Augen, außerdem war es bequem und eher locker geschnitten. Heute wollte sie nicht allzu Ausgefallenes tragen und damit eventuell den Abend schon vom ersten Augenblick an eine besondere Bedeutung geben.
    Mit einem Seufzer schob sie die aufkommende Frage nach der Bedeutung dieses Abends wieder beiseite. Darüber wollte sie gerade überhaupt nicht nachdenken. Wenn sie jetzt erst noch zum Krankenhaus fuhr, würde sie sich so sehr verspäten, dass Steve ganz sicher sauer wäre. Während sie mit dem Föhn die Haare trockenpustete, wählte sie aus dem Telefonspeicher seine Nummer.
    Er ging nicht ran. Dem Anrufbeantworter wollte sie ihre Verspätung auch nicht erklären, also beschloss sie, es darauf ankommen zu lassen. Dieser Typ brauchte seine Krücken, und sie brauchte ihre Jacke. So groß war der Umweg auch wieder nicht. Und überhaupt, sonst war sie immer ein Muster an Pünktlichkeit, heute würde sie sich eben ausnahmsweise einmal verspäten. Sollte Steve ruhig ein wenig warten, davon würde die Welt schon nicht untergehen.

Der Weg zurück in die Stadt und zum Krankenhaus erschien ihr länger als der Hinweg. Unterwegs kam ihr der Gedanke, er könnte vielleicht schon gar nicht mehr dort sein. Er war ja von der Idee, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden, nicht so begeistert gewesen, und man war schließlich dort keineswegs eingesperrt. Es blieb jederzeit die Möglichkeit, auf eigene Verantwortung zu gehen. Das war keine große Sache, wenn man jemanden hatte, der einen abholte und dann zu Hause auf einen aufpasste. Das hatte ihr Mann auch schon einmal für sie getan. Moment. Was war das nun plötzlich? Warum erinnerte sie sich jetzt daran? Sie hatte sich doch bisher an nichts erinnern können.
    Sie sah ihn vor sich, groß, blond und mit einem breiten Lächeln. Dieses Lächeln war ihr unheimlich, bedrohlich. Sie hatte das Gefühl, er wäre die Katze und sie die Maus. Sie wollte weg.
    „Komm, lass uns gehen.“ Er legte seinen Arm fest um ihre Schultern, und sie gingen zusammen den Flur hinunter. Die Schwester rief noch hinter ihnen her.
    „Aber nicht aus den Augen lassen, mindestens 48 Stunden.“
    „Natürlich nicht“, hatte er grinsend geantwortet, als sie fast bei den Aufzügen waren, und Anna hatte das Gefühl, in eine Falle zu laufen.
    Ihr Herz klopfte schon wieder im Hals. Gut, dass sie schon vor dem Parkplatz des Krankenhauses angekommen war. Sie fuhr an die Säule heran und drückte auf den Knopf. Das Ticket erschien, und nachdem sie es abgezogen hatte, öffnete sich die Schranke. Langsam fuhr sie vor und fand gleich rechts einen freien Platz.
    Diese automatisch ablaufenden Handgriffe beruhigten sie. Sie musste das Gefühl der Enge und des Gefangenseins wieder loswerden. Die Flashbacks waren verstörend. Nein, das war noch viel zu nett ausgedrückt. Sie wollte es überhaupt nicht wissen, wollte nicht an das erinnert werden, was schon so lange zurücklag. Sie sollten bleiben, wo der Pfeffer wächst, diese verdammten Erinnerungen. Er war weg, und sie wollte nur in Ruhe gelassen werden, allein sein, niemand da, wohltuende Stille und Freiheit.
    Die große Glastür glitt surrend auf, und sie trat mit den Krücken in der Hand in den Eingangsbereich des Krankenhauses. Das Foyer war großzügig und hell. Hinter dem Empfang gab es mehrere gemütliche Sitzecken und einen kleinen Kiosk mit Blumen und anderen Mitbringseln. Der Blumenduft hatte sich ausgebreitet und überdeckte, zumindest hier vorn noch, den üblichen Krankenhausgeruch. Anna sammelte sich und war froh, dass ihre Hand nicht mehr zitterte, als sie sie auf den weißen Tresen der Empfangstheke legte.
    „Guten Abend, ich suche die Notaufnahme.“
    Die Mitarbeiterin mit dem Dutt und der roten Brille sah hoch und musterte sie kurz. Dann nickte sie freundlich und wies mit einer Hand nach links. „Hier den Gang entlang, und dann immer den Schildern nach, bis ganz nach hinten.“
    „Vielen Dank“, murmelte Anna, bevor sie der Wegbeschreibung folgte. Hoffentlich würde sie den Mann tatsächlich antreffen. Es waren mehr als zwei Stunden vergangen, seit der Krankenwagen ihn mitgenommen hatte. Wenn er tatsächlich dringend hier weggewollt hatte, war er sicher inzwischen schon zu Hause. Mit ihrer Jacke.
    Sie beschleunigte Ihre Schritte und suchte eilig nach dem nächsten Hinweisschild. Etliche Flure später war sie fast am anderen Ende des Gebäudekomplexes angekommen und fand endlich die Notaufnahme.
    Der Wartebereich bestand aus mehreren Reihen hellgrüner Plastikstühle und einigen Tischen mit Zeitschriften. In einer Ecke standen ein Getränke- und ein Snackautomat, und durch die großen Fenster auf der linken Seite konnte man in den Park hinaussehen. Jetzt war es allerdings draußen dunkel, und sie erkannte nur undeutliche Umrisse von Bäumen. Zwei Männer saßen mit mürrischen Gesichtern auf den Stühlen und sahen hoch, als sie den Gang herunterkam. Sonst war niemand da. Auch der Glaskasten mit der Aufschrift „Notaufnahme hier anmelden“ war nicht besetzt.
    Anna blieb vor dem offenen Schiebefenster stehen, drückte die Klingel und wartete. Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien eine schlecht gelaunte Matrone mit platinblond gefärbtem Bürstenhaarschnitt und fauchte: „Ja bitte?“
    Anna hatte inzwischen gedankenverloren ein Bild an der hinteren Wand betrachtet und fuhr bei dem schneidenden Ton erschrocken zusammen. Kurz räusperte sie sich und antworte vorsichtig: „Ich suche einen Mann, der vor cirka zwei Stunden eingeliefert wurde. Ich habe hier seine Krücken und …“
    Die Blondine fiel ihr barsch ins Wort: „Na endlich kommt da mal jemand! Vielleicht können Sie ihn ja zur Vernunft bringen. Er will die Aufnahmepapiere nicht unterschreiben. Gut, dass sie ihm seine Krücken bringen, dann kann er gehen. Das will er ja ohnehin. Kommen Sie.“ Bei den letzten Worten öffnete sie eine seitliche Tür, die auf einen weiteren Flur führte, und ging voraus, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Anna folgte ihr mit einem heimlichen Grinsen. Dass er diese Kratzbürste anscheinend schon zur Weißglut gebracht hatte, machte ihn direkt sympathisch.
    In dem kurzen Gang mit den großen Türen auf beiden Seiten schlug ihr der unverwechselbare Geruch nach Krankenhaus mit neuer Intensität entgegen. Die zweite Tür links wurde aufgerissen.
    „Sie haben Besuch“, donnerte die Bürste, und bei ihr klang das wie ein Schimpfwort.
    Anna betrat eilig das Zimmer und versuchte ihr amüsiertes Grinsen zu verbergen. Kaum war sie eingetreten, fiel die Tür hinter ihr laut ins Schloss.
    Ein Krankenbett stand mit dem Kopfende an der Wand des kleinen Raums, und in ihm lag tatsächlich der Mann, den sie gesucht hatte. Das Kopfteil des Bettes war hochgestellt, sodass er beinahe sitzen konnte. Die schwarzen Haare klebten nass auf seiner Stirn, und in dem grellen Licht sah er noch viel blasser aus als vorher. Seine feuchte Kleidung war über das Fußende gelegt, und er trug eins dieser grauenvollen Krankenhaushemden.
    Als sie hereinkam, hatte er den Kopf zu Tür gedreht, und jetzt starrte er sie an, als wäre sie ein Geist. Zwischen den dunklen Brauen bildete sich eine tiefe Furche, während er die Lippen zu einem Strich zusammenpresste. Es war offensichtlich, dass die Blondine ihn bereits genauso sehr geärgert hatte wie umgekehrt.
    „Hi.“ Anna trat einen Schritt vor und hielt mit einem zaghaften Lächeln die Krücken hoch. Er starrte immer noch. „Sie haben vorhin auf der Straße etwas vergessen.“ Zögerlich machte sie einen weiteren Schritt und wartete auf eine Reaktion. Er atmete plötzlich tief ein, als ob er gerade aus einem Traum aufgeschreckt wäre.
    „Was machen Sie denn hier?“, fragte er und schüttelte den Kopf, während seine Züge sich etwas entspannten. Hatte er ihr nicht zugehört?
    „Ich habe Ihre Krücken halb unter meinem Auto gefunden, und ich glaube, Sie haben auch noch etwas von mir.“ Sie sah auf ihre Jacke, trat näher an das Bett heran und stellte die Krücken dagegen.
    „Ja, etwas … ah, die Jacke, ja“, stotterte er und schien so überrascht zu sein, dass er sie immer noch mit einem seltsamen Gesichtsausdruck ansah. Unvermittelt griff er nach ihrer Hand. „Danke.“ Ein kurzes Schweigen entstand zwischen ihnen, während er sie die ganze Zeit festhielt und seinen Blick immer noch nicht von ihrem Gesicht löste. Seine große Hand war warm und umschloss ihre fast vollständig. Sie war überrascht, dass die Berührung eines völlig fremden Menschen sich so vertraut und gut anfühlte, und sah verdutzt auf seine kräftigen Finger.
    „Entschuldigung“, murmelte er plötzlich und ließ ihre Hand so abrupt los, als hätte er sich daran verbrannt. „Wie komme ich zu Ihrer Jacke?“
    „Sie haben gefroren. Ich hoffe, die Jacke hat Sie wenigstens etwas gewärmt.“ Er nickte wortlos, hielt die Jacke aber fest, als ob er sie nicht wirklich hergeben wollte. „Schwester Kratzbürste sagt, Sie machen Schwierigkeiten“, begann Anna und musste bei dem Gedanken wieder schmunzeln.
    Mit einem Seufzer starrte er auf seine Hände, die immer noch in dem Stoff vergraben waren.
    „Ja, ich will nicht hierbleiben, aber ohne meine Krücken konnte ich auch nicht einfach gehen. Danke, dass ich sie jetzt wieder habe. Ich hoffe nur, jetzt lassen die mich endlich hier weg.“ Anna nickte schweigend und wartete, aber er sagte nichts mehr. Mit zusammengekniffenen Lippen starrte er nur weiterhin ihre Jacke an.
    „Warum wollen die Sie denn hierbehalten?“, fragte sie. „Sind Sie verletzt?“
    Er schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ich soll nur 24 Stunden unter Beobachtung bleiben, weil ich kurz bewusstlos war.“ Als er sich ihr wieder zuwandte, lag eine seltsame Verlorenheit in seinem Blick. Beinahe erwartete sie, er würde wieder nach ihrer Hand greifen, aber er bewegte sich nicht.
    „Dann lassen Sie sich doch von ihrer Familie oder einem Freund abholen, der auf sie aufpasst“, schlug Anna vor. Abrupt drehte er den Kopf weg und schwieg. Erst nach einer Weile antwortete er leise.
    „Da gibt es niemanden.“
    Sie sah auf den Boden und schluckte. Auch sie lebte allein, seit ihr Mann gestorben war, aber sie hatte immer noch ihre Eltern, auch wenn sie nicht wirklich in der Nähe wohnten. Außerdem fielen ihr auf Anhieb mehrere Freunde ein, bei denen sie in einem solchen Fall problemlos das Wochenende verbringen könnte. So allein zu sein, dass man selbst in einem Notfall überhaupt niemanden anrufen konnte, das überstieg ihre Vorstellungskraft. Mit einem leisen Stöhnen ließ sie sich auf den einzigen Stuhl im Raum fallen. Hastig drehte er sich wieder zu ihr herum, und kurz zuckte seine Hand in ihre Richtung. Einen Augenblick schwebte sie in der Leere zwischen ihnen, eher er sie auf das Bett fallen ließ.
    „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er.
    Lächelnd nickte sie. Das war ja schon ein wenig verrückt. Er hing hier im Krankenhaus in dieser seltsamen Endloswarteschleife fest, und um sie machte er sich Sorgen.
    „Ich möchte mich entschuldigen, dass ich Ihnen so viele Umstände gemacht habe“, murmelte er leise in die Jacke, die er immer noch festhielt. Dann drehte er sich plötzlich zu ihr herum und schaute sie an, als ob ihm etwas Wichtiges eingefallen wäre. „Ist an ihrem Auto irgendetwas verkratzt oder beschädigt?“
    Überrascht schüttelte sie den Kopf und bemerkte, dass sie noch nicht einmal nachgesehen hatte. „Ich glaub nicht, dass Sie so spitze Ellenbogen haben, dass die eine Delle ins Blech schlagen konnten, aber ich habe nicht wirklich darauf geachtet.“ Sie grinste ironisch, aber er blieb sehr ernst.
    „Vielleicht Kratzer von den Krücken, ich bin immerhin seitlich auf ihr Auto gefallen und konnte mich nicht abstützen, weil …“ Seine Stimme war wieder sehr dunkel, und das Ende des Satzes blieb offen. Anna drehte sich auf dem Stuhl ganz herum und sah ihn nachdenklich an.
    „Machen Sie sich keine Sorgen um mein Auto, das ist nur Blech. Wie geht es Ihnen und ihrem Kopf?“ Überrascht hob er die Brauen, dann nickte er vorsichtig.
    „Es geht schon. Ein wenig Kopfschmerzen, aber mit Sicherheit nichts Ernstes.“ Er beugte sich zum Fußende des Bettes und angelte nach seinem Mantel. Dann zog er eine Visitenkarte aus der Innentasche und reichte sie ihr herüber. „Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mir die Krücken zu bringen. Wenn Sie morgen bei Tageslicht doch noch einen Schaden an Ihrem Auto feststellen, lasse ich das sofort in Ordnung bringen. Bitte rufen Sie mich direkt an.“ Beinahe hörte sich der letzte Satz an, als hoffe er auf irgendwelche Kratzer. Quatsch, warum interpretierte sie solch abwegige Dinge in seine Worte? Sie schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu verscheuchen, und steckte die Karte in ihre Tasche, ohne sie anzusehen.
    „Ich denke, da wird alles o. k. sein. Außerdem muss ich mich jetzt auch verabschieden, ich bin ohnehin schon spät dran.“ Mit einem Nicken gab er ihr die Jacke. Als sich seine große Hand zum Abschied wieder um ihre schloss, musste sie schlucken. Sie wollte nicht, dass er wieder losließ. Was war das denn für eine seltsame Idee?
    „Vielen Dank noch einmal, und entschuldigen Sie die Umstände, die Sie meinetwegen hatten.“ Seine Worte rissen ihre Aufmerksamkeit von der Berührung los, und wieder wurde sie vom hellen Braun seiner Augen magnetisch angezogen. Irritiert drückte sie seine Hand noch einmal, ehe sie einen Schritt zurücktrat. Zögerlich ging sie zur Tür. Mit der Klinke in der Hand drehte sie sich noch einmal zu ihm um.
    „Gute Besserung für Ihren Kopf und auf Wiedersehen.“
    „Ja, auf Wiedersehen“, hörte sie seine tiefe Stimme noch, als sie die Tür schon fast hinter sich geschlossen hatte.
    Nachdenklich lief sie die Krankenhausflure entlang, und erst als sie schon draußen bei ihrem Auto stand, sah sie wieder auf die Uhr.

* * *

War das wirklich passiert? Mark lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie war hierhergekommen, um ihm seine Krücken zu bringen. In dem dunkelblauen Kleid hatte sie wirklich atemberaubend ausgesehen. Offensichtlich hatte sie heute Abend noch eine Verabredung, für die sie sich in der Zwischenzeit fertiggemacht hatte. Trotzdem war sie erst noch hier aufgetaucht. Ja natürlich, ihre Jacke musste sie abholen.
    Er konnte seinen harten schnellen Herzschlag hinter den Rippen fühlen. Das war doch nicht normal, er kannte sie ja schließlich überhaupt nicht. Oder kannte er sie vielleicht doch irgendwoher?
    Die Ärzte hatten ihm damals erklärt, dass die partielle Amnesie, die er seit dem Unfall hatte, wohl nicht wieder verschwinden würde. Bisher hatte er aber immer geglaubt, der Gedächtnisverlust bezöge sich nur auf den Unfalltag selbst. Zumindest hatte er bisher keine weiteren Lücken gefunden. Aber wie sollte man wissen, dass man etwas vergessen hatte? Angestrengt runzelte er die Stirn. Wer war sie wirklich? Warum fühlten sich ihre Gegenwart und ihre Berührung so vertraut, so warm, so wichtig an? Nein, damit musste er aufhören, er durfte nicht solchen Gedanken nachhängen, er würde sie ohnehin nicht wiedersehen. Sicher war sie nur gekommen, weil sie unbegründete Schuldgefühle wegen des Unfalls hatte.
    Die Tür ging auf und riss ihn aus seinen Gedanken. Im Rahmen stand Tim, ein Krankenpfleger, den er von seiner viel zu langen Zeit auf der Unfallstation kannte. Tims schwarze Haare waren mit reichlich Gel in Igelform gebracht. Überrascht warf er die vollständig tätowierten Arme in die Luft.
    „Mark! Bist du das echt? Mann, Alter, was machst du denn hier? Kein Rolli, du läufst mit den Krücken? Das ist ja mal cool. Und wer ist denn die süße Schnecke, die hier grad rausgekommen ist? Wow, du hast es ja echt geschafft, jetzt bin ich neidisch.“ Mark verzog die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen und wollte gerade antworten, als die blonde Schwester wieder hereinkam. Seine unerwartete Besucherin hatte sie vorhin „Schwester Kratzbürste“ getauft. Das passte einfach zu gut zu dem Bürstenhaarschnitt und dem Auftreten. Der Gedanke löste ein spontanes Lachen aus. Bei dem blechernen Ton, der wie eingerostet klang, fuhr er selbst ein wenig zusammen, und einen Augenblick lang wunderte er sich darüber, dass es sich so ungewohnt anfühlte.
    Schwester Kratzbürste hatte Papiere und einen Kuli in der Hand und knallte beides auf den kleinen Tisch. „Hier, füllen Sie das aus, dann können Sie gehen. Das ist ja Ihre eigene Verantwortung. Das Krankenhaus ist dann raus, wenn Ihnen etwas passiert.“ In militärisch straffer Haltung baute sie sich vor Mark auf, sah ihn prüfend an und wartete die Wirkung ihrer Worte ab. Obwohl er sich wirklich Mühe gab, zumindest ernst auszusehen, brodelte das Lachen über ihren neuen Namen in seiner Brust. Ganz überzeugend hatte er es wohl nicht unterdrücken können, denn ehe sie sich abwandte, schoss sie noch einen Giftpfeil in seine Richtung. Als sie schon fast draußen war, drehte sie sich noch einmal um.
    „Wenn Sie fertig sind, bringen Sie die Sachen nach vorn.“ Schon war sie verschwunden.
    Mark widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Krankenpfleger, der ihn damals wochenlang umsorgt hatte. Auch wenn man vor seiner äußeren Erscheinung Angst bekommen konnte, war er doch ein feiner Kerl mit viel Taktgefühl und Anstand. In der Zeit, die Mark hier verbracht hatte, war Tim fast ein Freund geworden, auch wenn die beiden Männer grundverschieden waren und über vieles sehr unterschiedliche Ansichten hatten.
    „Und was tust du hier unten, Tim? Bist du strafversetzt in die Notaufnahme? Hast du Schwester Agathe zu sehr geärgert?“
    „Nee, nee, nur eingesprungen. Oben ist grad nicht so viel los, und hier haben sie anscheinend so ’nen komischen Typen, der den ganzen Betrieb aufhält.“ Tim lachte dröhnend wie immer. „War ja klar, dass das nur du sein konntest. Was machst du überhaupt hier?“
    Mark erklärte kurz, wie er vom Bordstein gestolpert und auf das Auto gefallen war. Die seltsame Anziehung, die die Fahrerin des Wagens auf ihn gehabt hatte, ließ er allerdings weg. Erschrocken stellte er dabei fest, dass er noch nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte. Wenn sie ihn nicht wegen des Autos anrief, hatte er keine Chance, sie wiederzusehen.
    Tim riss ihn aus seinen Gedanken und fügte kopfschüttelnd an: „Du weißt, wie sehr ich meine Arife liebe, aber deine Autofahrerin ist ein Sahneschnittchen. Sieh zu, dass du dir die warmhältst.“
    Arife, ja, so hieß Tims Freundin. Plötzlich erinnerte Mark sich wieder an all die Geschichten, die der jüngere Mann ihm erzählt hatte. Irgendwann hatte er Mark einmal danach gefragt, warum ihn niemand besuchte, und so hatte Mark begonnen, von seinen Eltern und dem kaputten Zuhause zu reden. Irgendwann war dann auch aus Tim die traurige Geschichte seiner Vergangenheit herausgebrochen. Je mehr Parallelen sie in ihrer jeweiligen Kindheit gefunden hatten, umso enger war das Vertrauensverhältnis geworden.
    Als Tim ein Schulkind war, hatte das Jugendamt ihn von seinen Eltern weggeholt und in ein Kinderheim gebracht. Was er bis zu diesem Zeitpunkt zu Hause erlebt hatte, darüber konnte er selbst jetzt, als erwachsener Mann, noch nicht sprechen. Dass er den ersten Tag im Heim jedes Jahr wie einen zweiten Geburtstag feierte, sagte mehr darüber aus, als er zugeben wollte. Mit den Erlebnissen seiner Vergangenheit hatte Tim immer Probleme gehabt, sich auf andere Menschen einzulassen und zu vertrauen. Unter seiner fröhlichen Maske war das aber für Außenstehende nicht zu bemerken. Kurz nachdem er zum ersten Mal mit Mark über das alles gesprochen hatte, war Arife in Tims Leben aufgetaucht. Mark war noch immer fasziniert davon, was die echte Liebe der jungen Frau aus dem kaputten Innenleben des Krankenpflegers gemacht hatte. Man konnte spüren, dass das Lachen nicht mehr künstlich und aufgesetzt war. Wenn er von seiner Arife sprach oder auch nur an sie dachte, schien ihm das Glück aus jeder Pore zu strömen.
    Mark presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Angenommen und wirklich geliebt zu werden konnte die wunderbarsten Dinge mit einem Menschen anstellen. Schade nur, dass es das nicht für jeden gab.
    „Jetzt mach dich hier aber mal vom Acker, damit ich den Raum wieder fertigmachen kann.“ Tims Stimme riss Mark aus der Erinnerung. Benommen nickte er und griff nach den nassen Sachen. Ihm graute davor, die klamme Kleidung wieder überzuziehen, ihm war sowieso immer noch am ganzen Körper eiskalt. Aber später konnte er sich zu Hause ja unter die heiße Dusche stellen und wieder warm werden. Das war auf jeden Fall besser, als die Nacht hier in einem Krankenhausbett zu verbringen.
    Kaum war er fertig angezogen und stand mit seinen Krücken in der Hand auf dem Flur, machte Tim sich wieder an die Arbeit.
    „War gut, dich mal wieder zu sehen, Mann, und mach dir ein schönes ruhiges Wochenende mit der Süßen, das hast du dir verdient.“
    Marks Brustkorb wurde eng bei dem Gedanken. Ruhige Wochenenden hatte er in den letzten beiden Jahren wirklich genug gehabt. Doch hatte er wohl keine Alternative, als in die kalte Leere seiner Wohnung zurückzukehren. Die Frau mit den lichtblauen Augen, die Tim so flapsig „die Süße“ genannt hatte, würde er auch nicht wiedersehen. Seine Hände verkrampften sich um die Griffe der Krücken, bis die Knöchel weiß hervorstachen. Tim stand plötzlich neben ihm.
    „Hey, Mann, alles okay?“, fragte er besorgt.
    Mark hatte nicht gemerkt, dass er stehen geblieben war. Wortlos nickte er und ging langsam weiter, während er im Rücken noch den Blick seines Freundes spürte. Plötzlich hatte er den wilden Drang wegzulaufen, weg von seinem ganzen verkorksten Leben und am besten auch von sich selbst. Er wünschte, er könnte sich jetzt ins Auto setzen und losfahren, immer geradeaus, egal wohin, solange es nicht hier war.
    Mit gesenktem Kopf schlurfte er den grell beleuchteten Flur hinunter, in dem die Menschen um ihn herumwuselten, ohne von seiner Anwesenheit Notiz zu nehmen.

Kapitel zwei

Anna hatte sich bemüht, auf dem Weg nicht noch mehr Zeit zu verlieren, und stand nun vor dem schicken Hotel, wo sie heute Abend mit Steve verabredet war. Die riesige Drehtür führte sie in die lange, unter einem Glasdach gelegene Eingangshalle. Links und rechts präsentierten sich ein Bistro, die drei unterschiedlichen Hotelrestaurants und eine Autovermietung, ehe man überhaupt die Rezeption erreichte.
Nun war sie also fast eine ganze Stunde zu spät. Unschlüssig stand sie im Rezeptionsbereich und fragte sich, wo sie Steve hier suchen sollte. Mit einem Seufzer zog sie ihr Telefon aus der Tasche und tippte eine Nachricht.

Bin jetzt da, stehe in der Halle.

Sie ging im Foyer ein paar Schritte weiter und sah sich um. Gegenüber dem Empfang reckte sich der Kasten der großen gläsernen Aufzüge zur Glaskuppel und darüber hinaus an der Fassade des Hotels entlang zum Himmel. Weiter geradeaus ging es über eine Treppe in den Konferenzbereich, der auch noch eine Bar und ein Bistro bot.
Plötzlich stand Steve hinter ihr, umfasste ihre Taille und hauchte einen Kuss in ihren Nacken. Obwohl er nicht sonderlich groß war, musste er sich für den Kuss zu ihr hinunterbeugen.
„Hallo mein Täubchen, da bist du ja endlich.“
Überrascht versteifte Anna sich, zog sich aus seinem Griff und drehte sich zu ihm um. Seine Hände blieben dabei jedoch auf ihrer Taille liegen, und sofort machte er noch einen Schritt auf sie zu. Er zog sie an sich heran und küsste ihren Hals direkt unter dem Ohrläppchen. Wieder trat sie einen Schritt zurück und sah zu ihm hoch.
„Steve, ich …“
Seine Augen wurden schmal, und ein verspannter Zug zuckte um seinen Mund. „Ja, ja, ich vergaß, dass du das nicht magst, entschuldige“, unterbrach er sie. Dann griff er ihre Hand, drehte sich um und zog sie mit sich die Treppe hinauf. „Ein Freund von mir hat die ganze Hotelbar gemietet und feiert hier seinen runden Geburtstag. Er lässt es heute richtig krachen und hat wahrscheinlich die halbe Stadt eingeladen. Komm, die Party ist schon in vollem Gange.“
Überrascht folgte sie ihm zur Bar und wäre auf der Treppe beinahe gestolpert. Auch wenn der feste Griff seiner Hand schon wieder diese seltsame Enge in ihrem Brustkorb aufsteigen ließ, wollte sie ihn nicht inmitten dieser unbekannten Menschen verlieren. So ließ sie es widerstrebend zu, dass er sie mit sich zog. Trotz der Größe des Raumes herrschte dichtes Gedränge. Die Gäste saßen gedrängt um die U-förmige Theke in der Mitte. Auch die Stehtische waren alle besetzt. Außerdem standen noch jede Menge Leute in kleinen Grüppchen herum und unterhielten sich.
Als Steve plötzlich stehen blieb und Anna endlich Luft holen konnte, vernebelte die von den verschiedensten Parfums und Rasierwassern geschwängerte Luft ihr beinahe die Sinne. Sie wusste genau, warum sie so große Menschenansammlungen nicht mochte. Immerhin roch es besser als im Bus oder in der U-Bahn. Bei dem Gedanken zuckte ein Lächeln um ihre Mundwinkel, als Steve sich zu ihr herumdrehte. Er sah daraufhin wieder entspannter drein und nahm einem vorbeikommenden Kellner zwei Sektgläser vom Tablett. Eins davon reichte er ihr.
„Komm, jetzt müssen wir erst mal Max gratulieren, da hinten irgendwo ist er.“ Wieder zog er sie hinter sich her, zu einer Gruppe Menschen, die laut lachend mitten im Raum stand. Steve tippte einem Mann mit grauen, sehr kurz geschnittenen Haaren auf die Schulter.
„Max, darf ich vorstellen, meine Freundin Anna Hofmeister. Anna, das ist Max Maurer, Journalist und Schriftsteller und das Geburtstagskind.“
Anna lächelte den Mann in dem sehr eleganten Anzug etwas gezwungen an und streckte höflich eine Hand aus. „Guten Abend und herzlichen Glückwunsch.“
Max fasste ihre Hand und trat ein wenig auf sie zu. Dabei sah er ihr so tief und eindringlich in die Augen, als ob er versuchte, mit einem Blick ihre gesamte Persönlichkeit zu erfassen. Es kostete sie einige Mühe, der intensiven Prüfung standzuhalten. Max’ kantiges Gesicht hatte eine gewisse Strenge, aber aus den Augen strahlte eine freundliche Ruhe, die sich nicht nur durch Lebenserfahrung erklären ließ. Plötzlich beneidete Anna ihn für etwas, dass sie noch nicht einmal richtig benennen konnte. Er war einfach er selbst. Friedlich, entspannt und mit sich und der Welt im Reinen erschien er wie ein Ruhepol inmitten der lauten Menge.
„Vielen Dank“, sagte er nach einer gefühlten Ewigkeit. „Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.“ Als sie verlegen den Blick senkte, ließ er ihre Hand los und wandte sich mit leicht hochgezogenen Augenbrauen an Steve. „Das ist ja schön, dass ihr beiden zusammengefunden habt.“
Steve grinste und legte seinen Arm um Annas Schultern. „Ja, das finde ich auch.“ Dann zog er sie fest an sich und drückte ihr einen besitzergreifenden Kuss auf den Mund, bevor er sich wieder Max zuwandte und sein Glas hob. „Auf dich, mein Freund!“
Wild klopfte Annas Herz in ihrem Hals, und ihr Brustkorb zog sich zusammen. Er würde sie sicherlich gleich loslassen. Mühsam versuchte sie, sich zu beherrschen, lächelte gezwungen und stieß ebenfalls mit den beiden an. Natürlich wollte sie Steve hier vor seinen Freunden keine Szene machen, aber dieses Verhalten kannte sie von ihm gar nicht. Dass er sie als seine Freundin vorstellte und sie dann auch noch in einer so unwirschen Art küsste, ging ihr entschieden zu weit. Außerdem hielt er sie zu fest, viel zu fest. Unauffällig versuchte sie, sich aus seinem Arm zu lösen, doch er presste sie nur noch enger an sich.

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